Kapital: Roman (German Edition)
beide bereits seit zwei Wochen dort befanden. Einer davon war das Zeug, das er aus dem Haus seiner Großmutter mitgenommen hatte, die » W IR W OLLEN W AS I HR H ABT «-Postkarten und die DVD. Seit er aus der Pepys Road zurückgekehrt war, hatte er den ganzen Tag darin herumgeblättert. Die Karten wirkten ein bisschen wie eine Installation, ein Kunstwerk. Die DVD, die immer noch in dem Gerät unter dem Fernseher steckte, war ähnlich, nur diesmal mit bewegten Bildern. Ihr Inhalt bestand aus ausgedehnten Nahaufnahmen der einzelnen Häuser in der Pepys Road sowie einigen Detailaufnahmen und Kamerafahrten durch die Straße. Es sah ganz so aus, als wäre die DVD an zwei oder drei verschiedenen Tagen zu Beginn des Sommers aufgenommen worden. Sie war ungefähr vierzig Minuten lang.
Nachdem sich Smitty die DVD angeschaut hatte, gab er bei Google »Pepys Road Nummer 42« ein. Eine Weile klickte er sich durch das Internet, und
plötzlich sah er sich einem Foto der Haustür seiner Großmutter gegenüber. Der Blog hieß, wie sollte es auch anders sein, W IR W OLLEN W AS I HR H ABT . Es gab dort eine Reihe von
Nummern, und wenn man auf sie klickte, wurde man zu einem Foto des jeweiligen Hauses weitergeleitet. Das konnte die Haustür sein oder auch der
Briefkasten, die Stufen vor der Eingangstür oder die Klingel. Manche Fotos waren von der anderen Straßenseite aus aufgenommen, damit das ganze Haus ins
Bild kam; manche waren in Farbe, einige sogar in erhöhter Echtfarb-Qualität, andere waren schwarzweiß und wirkten amateurhaft. Ein
oder zwei sahen so aus, als habe man sie mit einer Lochkamera aufgenommen, die ungefähr in Hüfthöhe gehalten worden war. In diesen Aufnahmen, die ein
wenig so wirkten wie aus einem Spionagefilm, konnte man manchmal Bruchstücke von Personen erkennen. Ein Bein verschwand am Bildrand, oder der Schatten
einer Person fiel auf ein Gartentor. Aber davon abgesehen kamenin dem Film keine Menschen vor. Wer auch immer hinter diesem W IR W OLLEN W AS I HR H ABT steckte, gab sich ziemliche Mühe, damit die Menschen in der Straße vollkommen außen vor blieben.
Das also war das eine Thema, mit dem sich Smitty gerade beschäftigte. Das andere Thema beunruhigte ihn im Augenblick jedoch wesentlich mehr, denn dabei handelte es sich nicht um eine Sache, sondern um eine Person. Smittys Assistent. Sein »zukünftiger Ex-Assistent«, der in Smittys Kopf nun schon seit vielen, vielen Wochen unter diesem Titel lief, der aber noch immer nicht wirklich zum Ex-Assistenten geworden war, weil Smitty es noch nicht geschafft hatte, ihn zu feuern.
In Smittys Kunst ging es im Wesentlichen um Konfrontation. Es ging darum, die Menschen zu schockieren und sie aus ihren eingefahrenen Wahrnehmungsmustern zu reißen. Parodien, Entstellungen, Obszönitäten, ein Spray-Graffito auf der Wand mit einer Darstellung von Picasso, wie er von einem Tintenfisch einen geblasen bekommt – das war Smittys Welt. Dinge, die einem mitten ins Gesicht sprangen. Keine Kompromisse. Aber im Umgang mit Menschen vermied Smitty Konfrontationen. Er war mehr ein Friedensstifter, einer, der den Leuten entgegenkam und nach einer gemeinsamen Basis suchte. Das war so eine Yin-und-Yang-Sache. Die Dinge in der Balance zu halten – das war der Schlüssel zu allem.
Seine Kunst beschäftigte sich mit Extremen, sein Leben mit dem Gleichgewicht. Am besten wäre es, wenn Smitty einen Assistenten einstellen könnte, der dann seinen Assistenten feuerte. Sich einen neuen Nigel holen, um den alten Nigel loszuwerden. Das wäre perfekt. Aber es brachte nichts, herumzufantasieren. Das war jetzt schon viel zu lange so gegangen, und Smitty hatte den Entschluss gefasst, dass es heute endlich passieren musste. Auf seinem Schreibtisch klebte neben dem Stapel mit den Sachen von seiner Oma ein Zettel mit der Aufschrift »ERLEDIGE ES ENDLICH«. Dieser Zettel klebte dort schon seit einer Woche, und damit schon viel zu lange. In seinem Kopf hatte er dem Assistenteneine zweite Chance gegeben und dann eine dritte. Beide Chancen hatte der Assistent versiebt. Jetzt war es endgültig vorbei. Der entscheidende Faktor dabei war folgender: Der Assistent schien die ganze Zeit nahezulegen, dass in seinen Augen nicht Smitty, sondern er selbst die Person war, die man wie einen berühmten Künstler behandeln sollte. Dass er seit seinem Abschluss am Saint Martins keine Kunst mehr auf die Beine gestellt hatte und sich all sein Tun und Wirken in kleinen Hilfsarbeiten für Smitty
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