Kapital: Roman (German Edition)
Aufschrift: »Zensiert! Den kompletten Trailer gibt’s online!« Ein Plakat mit einer sich vorbeugenden Frau, die durch den Spalt ihrer Beine hindurch zurück in die Kamera schaute, als Reklame für Tampons.
Zwei lesbische Frauen, die sich an den Händen hielten, während sie ihren Hund spazieren führten.
Eine junge Frau, deren Hose so tief saß, dass mehr als die Hälfte ihres Hinterns entblößt war, und die sich, eine Zigarette rauchend, über einen Kinderwagen beugte und sagte: »Wo hast du es verdammt noch mal versteckt, du miese kleine Ratte?«
Zahllose Frauen, deren Brüste unter, über oder durch ihre dünne Sommerkleidung hindurch fast vollständig zu sehen waren.
Die Schlagzeile einer Zeitung, mit dem Wortlaut: »Islamische Terrorzelle in der Hauptstadt aktiv, sagt Polizeichef.«
Zahllose Menschen, die vor dem Pub am Park in aller Öffentlichkeit Alkohol tranken.
Während Usman an einer roten Ampel hielt, sah er einen Mann, der an einer Bushaltestelle stand und Zeitung las. Auf der Seite, die in Usmans Richtung zeigte, prangte das Foto einer vollkommennackten Frau, und darunter stand die Werbung einer Autoleasingfirma. Die Anzeige versprach dem Leser einen BMW der 3er Reihe, für eine Monatsrate von 299 £.
Usman fuhr weiter. Viele Leute tranken in den Bars am Parkrand Alkohol, Frauen rauchten, Paare küssten sich. Überall Alkohol. Weil es erst sechs Uhr war, waren die meisten derjenigen, die etwas tranken, noch nicht betrunken; das würde sich gegen zehn gründlich ändern. Besonders an Wochenenden wurde die gesamte Gegend dann zur Kampfzone. Ein Kampf zwischen Mensch und Alkohol, den jedoch der Alkohol jedes Mal für sich entschied. Nein, der Alkohol gewann nicht nur, er regierte: Er beherrschte die Wochenendnächte wie ein König, wie ein unheilbringender Erzengel. Und obwohl manche Leute deswegen murrten und sich gelegentlich beschwerten, war es doch nur die englische Form einer Beschwerde, die eher einem Jammern gleichkam. Dieses Jammern zeigte, dass man sich eigentlich mit der Sache längst abgefunden hatte, man drückte damit keine Wut aus, keine Empörung und auch nicht den Wunsch, etwas zu ändern. In Usmans Augen erweckte diese Gesellschaft den Anschein, als sei sie im Begriff, sich in eine Art Hölle zu verwandeln, und das einzig und allein im Interesse der Menschen, die ihr Geld mit dem Verkauf von Alkohol verdienten.
Der Imam in Usmans Moschee war ein erzürnter Mensch, aber er war nicht dumm, und die Gesellschaft hatte ihm eine unvergleichlich mächtige Waffe in die Hand gegeben: Was er zu den meisten Themen zu sagen hatte, entsprach der Wahrheit. Er wetterte gegen den Kapitalismus, die Abwertung der körperlichen Liebe und die Degradierung der Frauen durch die pornografische Bildersprache, die in diesem Land, in der heutigen Zeit, überall zu finden war. Er sprach über Dinge, die so selbstverständlich geworden waren, dass es einem vorkam, als würden die Menschen sie tatsächlich gar nicht mehr wahrnehmen. Aber Usman, der schließlich in diesem Land aufgewachsen war, der kein Einwanderer war – Usman sah sie alle.
Er war zu der Überzeugung gelangt, dass der Imam recht hatte: All das waren Symptome von Dekadenz. Sex, der benutzt wurde, um etwas zu verkaufen; die Korrumpierung des fundamentalen menschlichen Impulses, einen anderen Menschen zu lieben; Sex, der zu einem Vehikel weiterer kapitalistischer Entwürdigungen wurde – Sex war überall. Aber es war nie echter Sex, zumindest nicht so, wie Usman ihn verstand: eine rauschhafte Verzückung, wie man sie im Paradies erfährt, eine transzendente Erfahrung. Stattdessen gab es nackte Frauen, die nur dazu dienten, die Verkaufszahlen zu heben. Sex war untrennbar mit Geld verbunden. Und als Nächstes nahm sich der Imam dann immer das Thema der alkoholisierten Gesellschaft vor. Auch hier sagte er etwas, von dem jeder wusste, dass es den Tatsachen entsprach. Usman hatte in den Ferien häufig als Pförtner im Krankenhaus gearbeitet und dort oft genug mit eigenen Augen gesehen, dass jede Notaufnahme an einem Samstagabend zu einer wahren Enzyklopädie dessen wird, was man sich selbst antun kann, wenn man betrunken ist. Männer und Frauen, die sich streiten, die kotzen, Männer, die Männer schlagen, Männer, die Frauen schlagen oder von ihnen geschlagen werden, Männer, die vergewaltigen, und Frauen, die vergewaltigt werden, Angehörige beider Geschlechter, die sich Krankheiten einfangen, ihren Kindern Leid zufügen, Autos zu Bruch
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