Kapital: Roman (German Edition)
fahren, sich umbringen, sich mit Alkohol selbst töten. Und warum hatte diese Gesellschaft ein so starkes Bedürfnis danach, sich zu betrinken? Weil sie wusste, dass sie sich verirrt hatte, dass sie auf den falschen Weg geraten war, und weil sie dieses Wissen mit allen ihr zur Verfügung stehenden Mitteln auslöschen musste.
Und dann, nachdem der Imam alle diese Wahrheiten ausgesprochen hatte, ging er zu anderen Wahrheiten über. Es war ihm egal, wie viele Spitzel es in der Gemeinde gab, Spione, die von der Kafir-Regierung Großbritanniens bezahlt wurden; er stand über solchen Dingen. Der Imam sagte einfach nur die Wahrheit. Er war zu intelligent, um auszusprechen, dass es einen globalen Krieg gegen den Islam gab. In Usmans Augen war das so, und man konnteüberall Beweise finden, von Palästina über den Kosovo und Afghanistan bis hin zum Irak. Und dann gab es da noch die subtileren Beispiele für Unterdrückung, wie in Ägypten, Pakistan und Indonesien und überall dort, wo es dem Islam nicht gestattet wurde, sich auf demokratischem Wege voll zu entfalten – aber das musste man gar nicht erst beweisen. Man musste einfach nur eine ganz simple Frage stellen. War das Leben eines Muslim genauso viel wert wie das Leben eines Christen oder Juden? Zählte in der gegenwärtigen Weltordnung ein totes muslimisches Kind genauso viel wie ein totes jüdisches Kind? War der Tod eines Muslim genauso viel Aufmerksamkeit wert wie der Tod eines Christen?
Die Antwort war so offensichtlich, dass man sie gar nicht erst aussprechen musste. In der Waagschale des Westens – und das bedeutete, entsprechend dem Wertesystem, das die Welt regierte – wog ein muslimisches Leben nur einen Bruchteil dessen, was ein anderes Leben wog. Ob es einen Krieg gegen den Islam gab oder nicht, darüber konnte man streiten. Aber die unumstößliche Wahrheit, dass ein muslimisches Leben weniger zählte – die konnte man nicht anfechten. Und daraus folgte so einiges.
Usman kam an der Moschee an, hielt am Bürgersteig und stieg ab. Mit dem Fahrrad einfach auf den Bürgersteig zu fahren wäre unhöflich gewesen. Er kettete sein Rad an einen Fahrradständer, obwohl das, wie ihm schnell klar wurde, ein gefährlicher Platz war. Ein Dieb, der das Fahrrad vor der Moschee stehen sah, würde erraten können, wo sich der Eigentümer befand und wie lange er wegbleiben würde. Inschallah – entweder wurde es gestohlen oder nicht. Dann schloss er sich den Männern an, die das Gebäude zur Gebetswaschung betraten.
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Smitty bürstete die Dinge gerne gegen den Strich. Eigentlich hätte man bei jemandem wie ihm erwartet, dass er gar keinen Schreibtisch besaß, oder wenn, dann etwas sehr Modernes – eine Workstation mit schräger Arbeitsfläche zum Skizzieren und einen Laptop-Ständer. Stattdessen besaß er einen riesigen viktorianischen Partnerschreibtisch aus Eichenholz. Da er selbstverständlich keinen Partner hatte, benutzte er beide Seiten des Tisches. Den meisten Platz nahm dabei sein Ablagesystem ein: mehrere Papierstapel, die nach verschiedenen Themen geordnet waren. An einer Wand des Ateliers hing eine Tafel, die man mit Vorhängen verdecken konnte, damit das Projekt, an dem gerade gearbeitet wurde, vor den Augen eines zufälligen Beobachters verborgen blieb. Darüber hinaus gab es noch eine Stereoanlage, die 5000 £ gekostet hatte, und einen Fernseher mit einem Sechzehn-Zoll-Plasmabildschirm. Smitty war durchaus kein Technikhasser. Sein Assistent – sein »Nigel« – hatte in einer Ecke des Ateliers seinen eigenen Schreibtisch mit Telefon und PC. Er durfte durch den Raum gehen, wenn er etwas zu erledigen hatte, sich aber auf keinen Fall mit seinen Sachen ausbreiten und womöglich in den Bereich eindringen, der allein Smitty vorbehalten war. Smitty stellte nie weibliche Assistenten ein, denn er war davon überzeugt, dass es besser war, sexuelle Spannungen vollständig vom Arbeitsplatz fernzuhalten. Er hatte nicht die geringsten Schwierigkeiten, Frauen anzubaggern, und brauchte auf der Arbeit nicht auch noch irgendwelche Scherereien.
Es gab Zeiten, da lagen zehn oder zwölf riesige Papierstapel auf dem Schreibtisch, die entweder mit einem Projekt zu tun hatten, über das Smitty gerade nachdachte, oder aber, wie Smitty es nannte, mit »Verwaltungsscheiß«. In diese Kategorie fiel mehroder weniger alles, was nicht mit Kunst zu tun hatte. Manchmal gab es aber auch nur einen einzigen Stapel. Heute lagen zwei Papierstöße auf dem Schreibtisch, die sich
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