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Kapital: Roman (German Edition)

Kapital: Roman (German Edition)

Titel: Kapital: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Lanchaster
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Eine Lieferung, dachte Zbigniew, während die Besitzerin nach unten ging und ein paar Minuten dort blieb. Dann hörte Zbigniew, dass sie die Treppen wieder ganz nach oben zu ihm hinaufgestiegen kam.
    »Sie haben Besuch«, sagte sie. Ihr Gesichtsausdruck wirkte irgendwie verkniffen, und Zbigniew fiel es schwer, ihn zu interpretieren. Er wischte sich die Hände ab und ging nach unten.
    Sein erster Gedanke, als er Davina dort stehen sah, war, dass sie in einen Regenguss geraten sein musste. Ihr Kopf hing matt herunter, ihre Haare wirkten strähnig, ihr Gesicht war eingefallen, ihre Schultern waren gekrümmt und die Kleider schienen ihr lose am Körper zu hängen. Aber es regnete nicht und hatte auch den ganzen Tag nicht geregnet. Davinas Haut hatte alle Farbe verloren, und mit den blonden Haaren sah sie aus wie ein Geist. Zbigniew spürte, wie ein Ruck durch seinen Körper ging, mitten durch seine Brust und seinen Bauch. Es war eher ein körperliches Gefühl als irgendeine Emotion, die er in Worte hätte fassen können.
    »Hallo«, sagte Davina. »Ich würde gerne mit dir reden.«
    Zbigniew hatte schon oft genug gesehen, wie sie sich aufführte, wenn es ihr schlecht ging und sie theatralisch im Elend badete,aber diesmal war an dem stumpfen Ton, mit dem sie sprach, etwas wahrhaft Beängstigendes.
    »Woher wusstest du, wo ich bin?«, fragte er. Und während er die Frage aussprach, merkte er, wie er sie sich selbst in seinem Kopf noch viel energischer stellte: Ja, wirklich, woher wusste sie das bloß? Er war sich sicher, dass er ihr nie erzählt hatte, wo er arbeitete. Es war unheimlich und seltsam, dass sie ihn gefunden hatte. Hier lief gerade etwas ganz furchtbar schief. Die Situation war aus der Bahn geraten. Eine bedrohliche Schwerelosigkeit erfasste ihn, er hatte das Gefühl, jegliche Kontrolle verloren zu haben, so als sei er mit dem Auto ins Schleudern gekommen.
    »Piotr«, sagte sie.
    »Hier können wir uns nicht unterhalten«, sagte er. Die verrückte Lady war zwar nach oben gegangen, also hätten sie sich durchaus hier unterhalten können, wenn er gewollt hätte. Aber das schien ihm nicht der richtige Ort zu sein. Er verließ das Haus, gab fast dem Impuls nach, ihren Arm zu nehmen, entschied sich dann jedoch dagegen und ging vor ihr her, während er seine Entscheidung traf: eine Bank im Park. Das war ein guter Kompromiss zwischen öffentlich und abgeschieden. Auf dem Weg sagte Davina kein einziges Wort. Ein oder zwei Leute starrten sie an, während sie an ihnen vorbeigingen. Sie spürten wohl die angespannte Stimmung zwischen ihnen; jene unverkennbare Atmosphäre, dieses Mikroklima, das ein Paar umgibt, das sich gerade mitten in einem Streit befindet. Zbigniew hatte einen Moment lang das Gefühl, das Opfer einer Geiselnahme geworden zu sein, und hätte beinahe die an ihm vorrübergehenden Menschen um Hilfe angefleht: Rettet mich! Sie hat mich gegen meinen Willen gefangengenommen! Hilfe!
    Sie setzten sich auf eine Bank. Ungefähr zwanzig Schritte entfernt benutzte ein Mann mittleren Alters, der im Begriff war, joggen zu gehen, einen der Bäume für seine Dehnübungen.
    »Du hast da ganz furchtbare Sachen gefaselt«, begann Davina. »So etwas kannst du unmöglich sagen. Denkst du denn, ich binbescheuert? ›Es liegt nicht an dir, es liegt an mir.‹ Wie kannst du es wagen? Das ist keine rhetorische Frage, ich meine es ganz wörtlich – wie kannst du es wagen? Mit mir zu sprechen, als sei ich deine idiotische Hure, die du einfach so stehen lassen kannst, während du mit einer Anderen fröhlich in den polnischen Sonnenuntergang hüpfst.«
    »Es gibt keine Andere«, sagte Zbigniew. »Das hast du falsch verstanden, wenn du glaubst –«
    »Du denkst wohl, ich bin auf den Kopf gefallen. Es gibt immer eine Andere, das weiß doch jeder, wenn –«
    »Ich lüge dich nicht an, es gibt wirklich niemand anderen, der dich –«
    Einen Moment lang sah Zbigniew den Hauch einer Möglichkeit, einen potentiellen Fluchtweg. Falls sie so weitermachte, wütend blieb und immer wütender wurde, dann konnte er auch wütend werden, und sie würden sich anbrüllen, was sie noch weiter auseinandertreiben würde, viel weiter, als sie es vor Beginn dieser Unterhaltung gewesen waren. Er würde es vielleicht doch noch schaffen, hier rauszukommen … Aber gerade als ihm dieser Gedanke durch den Kopf ging, änderte sich ihr Tonfall.
    »Ich will nicht, dass du mich verlässt. Ich kann ohne dich nicht leben. Ich werde ohne dich nicht leben.

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