Kapital: Roman (German Edition)
fahren.
Anstreichen gehörte zu Zbigniews Lieblingsjobs. Er mochte es, weil es eine sehr gleichförmige Arbeit war, die aber auch Sorgfalt erforderte. Es gab Detailarbeit, wo man sich konzentrieren musste, und Abschnitte, wo man einfach drauflosstreichen konnte und in kurzer Zeit sehr viel geschafft bekam. Er fand es faszinierend, wie ein neuer Anstrich ein Haus komplett verwandeln konnte. Manchmal veränderte sich sogar die Form, wie zum Beispiel in diesem Fall: Durch die violette Farbe erweckte der Flur den Anschein, als würden die Wände viel enger zusammenrücken. Und er mochte den Geruch von neuer Farbe. Es war einer der besten Jobs, die man ohne fremde Hilfe, ganz für sich allein erledigen konnte.
Nach ungefähr einer halben Stunde hörte er, wie die geschiedene Lady nach Hause kam und in die Küche ging. Ungefähr fünf Minuten später kam sie langsam die Treppe herauf. Zbigniew hörte einen Moment lang mit dem Streichen auf und trat zur Seite, um sie vorbeizulassen. Sie trug einen schlabbrigen grauen Trainingsanzug, ein Stirnband, um sich das Haar aus dem Gesicht zu halten, und hielt einen pinkfarbenen iPod Nano in der Hand.
»Dieser Mann bringt mich noch mal um«, sagte sie.
»Vielleicht sollten Sie ihn zuerst umbringen«, sagte Zbigniew. Das fand sie sehr lustig.
Er machte sich wieder ans Streichen. Währenddessen begann er, sich einen Plan zurechtzulegen, wie er dieses Schweigen zwischenPiotr und ihm beenden konnte. Die Erfahrung, die er mit Davina gemacht hatte, bewies ganz klar, dass er nun zu einem Meister der zwischenmenschlichen Kommunikation geworden war. Piotr war ein katholischer Betbruder, ein Idiot, ein Heuchler – wenn man mal seinen eigenen Werdegang in Betracht zog, der mit zahllosen gescheiterten und zerbrochenen Beziehungen gespickt war – und ein besserwisserischer Moralapostel. Aber er war auch sein ältester Freund, und diese Sache war jetzt lange genug so gegangen. Vielleicht wäre es am einfachsten und besten, wenn er einfach vor ihn treten und »das hat jetzt lange genug gedauert« sagen würde. Dann konnten sie das alles hinter sich lassen. Er brauchte gar keinen komplizierten Plan.
Um das erfolgreiche Abservieren von gestern Abend zu feiern – obwohl Zbigniew es, jetzt, da er es hinter sich gebracht hatte, in seinem Kopf etwas freundlicher formulierte und es »die Trennung« nannte –, gönnte er sich ein Mittagessen im Lokal um die Ecke. Es war eins von diesen Etablissements, die die Engländer »Greasy Spoon« nannten, eher eine Imbissbude als ein Restaurant. Aber das Essen hier war gar nicht so schlecht – neben den riesigen Tellern von fritiertem Essen, die sich die englischen Arbeiter immer bestellten, gab es sogar Salate und Nudelgerichte. Aber Zbigniew war auf den Geschmack dieser englischen Tradition gekommen und bestellte sich die Nummer 2. Sie bestand aus Speck, Blutwurst, Fritten, geröstetem Brot, Spiegeleiern, Pilzen, Tomaten, mit Kräutern gewürzten Würstchen, die zwar nicht so gut waren wie die polnischen, aber auch nicht zu verachten, und gebackenen Bohnen. Letzteres war eine englische Spezialität, die Zbigniew ursprünglich nicht hatte ausstehen können. Da sie aber Teil fast jeder Mahlzeit war, hatte er sich an sie gewöhnt und aß sie mittlerweile sogar ganz gern. Wie bei so vielen Nahrungsmitteln, die die Engländer bevorzugten, bestand das Geheimnis der Bohnen darin, dass sie in Wahrheit viel süßer waren, als es den Anschein hatte. Zu dem Essen gab es eine große Tasse ziemlich schlechten Kaffee. Das Gericht kostete 6 £, aber bei besonderenGelegenheiten gönnte er sich das einfach mal. Falls Zbigniew mit diesem Job heute fertig wurde, und das hatte er fest vor, dann wäre er seinem Arbeitsplan einen halben Tag voraus. (Und zwar seinem echten Arbeitsplan, dem, den er in seinem Kopf hatte, nicht dem, den er seinen Kunden gab.) Er konnte also mit einem anderen Auftrag beginnen, was bedeutete, dass er mehr Geld verdienen würde, was wiederum fast so gut war, wie das Geld bereits auf der Bank zu haben. Der Tag hatte vorzüglich angefangen.
Er kehrte zu dem Haus und seinen Pinseln zurück. Er würde für das Streichen noch zwei Stunden brauchen, dann ungefähr drei Stunden für das Ausbessern, und dann war er fertig, falls nicht die verrückte geschiedene Lady noch mehr Arbeit für ihn hatte. Gegen drei Uhr, gerade als er im Begriff war, sich ans Überarbeiten zu machen, überall nachzubessern und die Sache abzuschließen, klingelte es an der Tür.
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