Kapital: Roman (German Edition)
lag nur noch ihr Körper hier?
Petunia holte noch einmal rasselnd und gebrochen Luft undatmete dann in stoßweisen, zersplitterten Zügen tief aus. Mary spürte, dass sich die Hand ihrer Mutter nun ganz anders anfühlte; sie wurde nicht schlaff, denn das war sie vorher schon gewesen, sie fühlte sich einfach nicht mehr so an wie vorher. Ihre Mutter war nicht mehr da. Petunia Howe war tot.
Aber die Augen ihrer Mutter standen immer noch offen. Das machte Mary Angst, und es schien auch irgendwie nicht richtig zu sein. Als hätte sie das begriffen – was gar nicht so abwegig war, denn sie hatte das hier ja schon viele Male zuvor getan; man brauchte sich nur in Erinnerung zu rufen, dass so etwas andauernd passierte –, lehnte sich die Krankenschwester vor und schloss Petunias Augen. Seltsam. Mary hatte diese Geste schon oft in Filmen gesehen. Sie hatte es immer schwer vorstellbar gefunden, dass das wirklich funktionierte; als hätten die Augen kleine eingebaute Hebel, die man einfach so mit der Handfläche runterziehen konnte. Aber es musste wohl stimmen, denn genau das hatte die Schwester gerade getan. Vielleicht bekam man ja beigebracht, wie das ging. Die Schwester legte ihre Hand auf Marys Schulter; es war das erste Mal, dass sie sie überhaupt berührt hatte. Sie sagte nichts, und auch Mary sagte nichts. In diesem Augenblick sehnte sie sich, mehr als nach allem anderen auf der Welt, nach einer Zigarette. Nachdem ein oder zwei Minuten verstrichen waren, stand sie auf, ging nach unten, zog das Päckchen Marlboro Lights aus ihrer Jackentasche und öffnete die Tür zum Garten. Arme alte Mama, dachte sie. Gott sei Dank. Mein armer alter Papa. Der eine ganz plötzlich, die andere langsam. Der erste Tod war für die Hinterbliebenen schwer gewesen, der zweite für alle, weil er sich so ewig hingezogen hatte. Ich Ärmste, dachte sie dann. Mary, die Waise. Mary, Mary, ganz schön widerspenstig, schau nur, deine Eltern sind fort. Wenn du eine bessere Tochter gewesen wärst, dann würden sie jetzt noch leben, sagte eine innere Stimme, aber eine andere Stimme widersprach dem sofort: Unsinn!
Ich nehme an, so etwas hier nennt man Realitätsverweigerung,dachte Mary. Aber es schien ihr gar nicht so, als würde sie sich irgendetwas verweigern; sie fühlte sich einfach nur taub. Narkotisiert. Sie sollte Alan anrufen. Als sie die erste Zigarette zu Ende geraucht hatte, tat sie etwas, das sie sonst eigentlich nie tat: Sie zündete sich an dem noch glimmenden Stummel eine zweite an.
Hätte Mary aus ihrer Selbstversunkenheit aufgeschaut, dann hätte sie festgestellt, dass es immer noch hell genug war, um den Garten zu sehen. Er war während des ganzen Frühlings immer weiter und weiter gewachsen, ohne dass ihn irgendjemand beschnitten oder gepflegt hätte. Nun blühten die Malven und der Rittersporn, und auch die Knospen der Lupinen brachen gerade auf. Die Klematis an der hinteren Mauer war auf beiden Seiten in die Nachbargärten hinübergewachsen und schien über die Mauer hinweg auch noch nach den Wohnungen greifen zu wollen, die vorne auf die Mackell Road hinausgingen. Der verwahrloste Rasen leuchtete in einem tiefen, chaotischen Grün. Der Garten war in einer geschützten Lage, und wenn die Pflanzen in Blüte standen, dann schwebte ihr Parfüm noch lange in der Luft. Heute war dieser Duft, der in der Dämmerung immer am eindringlichsten war, von einem scharfen Grün durchdrungen. Selbst durch den Zigarettenrauch hindurch konnte Mary die Minze riechen, die sich in dem gesamten linken Blumenbeet ausgebreitet hatte wie Unkraut, was sie ja im eigentlichen Sinne auch war. Gerade diese Zeit – des Tages und des Jahres – hatte Petunia immer besonders geliebt. Das Geißblatt, das an der Gartentür wuchs, war wild in alle Richtungen gewuchert, und ein oder zwei Ranken der Pflanze schlängelten sich am Rand des Fensters sogar bis in die Küche hinein. Es hatte ganz den Anschein, als wollte der Garten, den Petunia so geliebt hatte, sich nach ihr ausstrecken, bis hinein ins Innere des Hauses, in dem sie gelebt hatte und gestorben war, und sie auf ihrer letzten Reise begleiten.
58
»Ich muss noch mal Aa machen!«, sagte Joshua. Matya war sich nicht sicher, ob sie seufzen oder lachen sollte, also tat sie von beidem ein bisschen. Sie waren gerade unten im Wohnzimmer, und Gott sei Dank war die Toilette nicht weit. Draußen regnete es, also waren sie heute zu Hause geblieben, aber Matya hatte versprochen, dass sie zu dem Teich an der anderen
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