Kapital: Roman (German Edition)
eigentlich genau, was er als Nächstes tun würde, und das tat er dann auch: Er drehte die Klinke bis zum Anschlag und drückte dann sanft gegen die Tür, so dass sie sich mit einem leisen Knarren öffnete. Der Geruch eines alkoholischen Desinfektionsmittels schlug ihm entgegen.
Eine alte Frau lag in einem Bett. Sie lehnte mit dem Kopf gegen die Wand. Das hölzerne Bettgestell war ans Fenster geschoben worden und stand ihm direkt gegenüber. Er war schon im Begriff, sich zu entschuldigen, als ihm klar wurde, dass sie ihn nicht sehen konnte, obwohl ihre Augen geöffnet waren und es so wirkte, als schaute sie genau in seine Richtung. Er schien unsichtbar für sie zu sein. Zbigniew hatte diesen Blick sonst nur in den Augen von Tieren gesehen: Die Vehemenz und Intensität, mit der eine Kuh einen Menschen anschauen konnte, ließ sich nur dadurch erklären, dass der Verstand dahinter fehlte. Ein solcher Blick kam aus den Augen der alten Frau. Die Macht der Anwesenheit, gekoppelt mit der Macht der Abwesenheit. Es wurde ihm klar, dass sie Mrs Leatherbys Mutter sein musste und dass sie im Sterben lag.
Sie schaute Zbigniew ungefähr eine Minute lang an – falls sie tatsächlich schaute und nicht einfach nur mit offenen Augen dalag, deren Blick zufällig in seine Richtung ging. Dann schloss sie langsam die Lider. Zbigniew stockte der Atem: Vielleicht war sie gerade gestorben, hier und jetzt, genau in diesem Augenblick! Was konnte er tun? Was sollte er tun? Inwieweit war er verantwortlich? Aber nein, das war gar nicht passiert; sterbende Menschen schlossen nicht einfach nur so die Augen, als schliefen sie gerade ein. Sie war nicht gerade gestorben. Aber das würde sie bald tun, das war deutlich zu sehen.
Zbigniew würde diesen Moment nie vergessen: der Geruch, die Schwere der viel zu warmen, stickigen Luft im Zimmer, die Gegenwart der alten Frau, die bereits eine weite Strecke auf dem Wegzur anderen Seite zurückgelegt hatte und zum Teil schon gar nicht mehr hier war, und das damit verbundene Gefühl, dass sich im Zimmer noch eine ganz andere Gegenwart zu ihnen gesellt hatte. Zbigniew war kein gläubiger Mensch, er glaubte an gar nichts; aber er merkte, dass er nun zum ersten Mal in seinem Leben an den Tod glaubte. Der Tod war nicht nur ein Fantasiegebilde, oder etwas, das anderen Menschen passierte. Auch er würde eines Tages sterben, genau wie diese Frau hier, und genau wie sie würde er allein sterben. Selbst wenn überall um ihn herum Menschen waren, die ihn liebten – sterben würde er allein. Viele Menschen werden von diesem Gedanken, von dieser Erkenntnis, zum ersten Mal heimgesucht, während sie in den frühen Morgenstunden wachliegen. Aber Zbigniew kam diese Erkenntnis genau dort, mitten am Nachmittag, im Schlafzimmer der Pepys Road Nummer 42.
Am selben Abend trennte er sich endgültig von Davina. Er schloss die Möglichkeit unwiderruflich aus, dass sie jemals wieder zusammenkommen würden. Er ging so zart und schonend vor, wie es nur möglich war, aber sein Entschluss war unabänderlich. Es war vorbei.
57
Mary wusste nicht genau, was sie von der Krankenschwester halten sollte, die ins Haus gekommen war, während ihre Mutter im Sterben lag. Es war auch nicht gerade hilfreich, dass sie andauernd ihren Namen vergaß. Die Schwester hieß Joanna, aber Mary hatte eine seltsame geistige Blockade bei diesem Namen. Sie erinnerte sich an das Jo, aber danach landete sie immer bei Josephine, Joan, Jody oder Jo, merkte dann, dass das nicht stimmte, und gab auf halbem Wege auf. Jeden Tag sagte sie sich mindestens zehn Mal, dass Joannas Name Joanna war, aber es nützte nichts.
Die Krankenschwester war eine forsche Frau von ungefähr fünfundvierzig Jahren, und Krebspatienten waren ihr Spezialgebiet. Ihre Haarfarbe war von blond zu weißgrau übergegangen, und sie trug ihre Uniform mit Überzeugung. Das Personal im Hospiz war wesentlich freundlicher gewesen. Joanna hingegen war kühl und sachlich. Auch ihr leicht schottischer Akzent trug zu dem Eindruck von Kälte bei. Zweifellos hatte sie schon so oft Leuten dabei zugesehen, wie sie vollständig in sich zusammenbrachen, dass sie ganz klare Grenzen ziehen musste. Ich, die Krankenschwester, bin hier auf dieser Seite. Ihr, die Familie der sterbenden Person, seid dort drüben auf der anderen Seite. Wenn sie gerade nicht gebraucht wurde, telefonierte sie manchmal mit ihrem Handy. Es waren sehr leise Gespräche, die man sehen, aber nicht hören konnte. Sie verbrachte auch viel
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