Kapital: Roman (German Edition)
Zeit damit, Textnachrichten zu verschicken. Wenn sie eine SMS schrieb, dann lehnte sie sich immer ein wenig vor, um die Tastatur besser sehen zu können. Es war erstaunlich, dass sie in ihrem Alter eine so begeisterte SMS-Schreiberin war.
Man musste ihr jedoch zugestehen, dass sie alles machte, was gemacht werden musste. Sie wusste immer genau, was vor sichging. Das war für Mary eine große Hilfe, denn sie fühlte sich vollkommen verloren. Das lag vor allem daran, dass ihre Mutter mittlerweile auf gar nichts mehr reagierte und im Grunde genommen schon fortgegangen war. Mehr als alles andere bekam Mary dadurch das Gefühl, einsam zu sein. Sie war auch traurig, aber das lag eher unter der Oberfläche. Was sie bewusst fühlte, war hauptsächlich ihre vollkommene Isolation. Sie hatte den überwältigenden Wunsch, ihrer Mutter zu helfen, ihr die letzten Augenblicke zu erleichtern, aber gleichzeitig wusste sie, dass es nichts mehr für sie zu tun gab. Außer zu rauchen. Das Rauchen schien ihr zu helfen. Mittlerweile war sie wieder bei einem Päckchen pro Tag. Alan würde sie umbringen, falls das nicht schon die Zigaretten besorgten. Aber sie hielt sich an die von ihr selbst aufgestellte Regel, niemals im Haus zu rauchen. Sobald sie auch im Haus rauchte, hieß das, dass sie wirklich und tatsächlich wieder mit dem Rauchen angefangen und es sich nicht nur vorübergehend wieder angewöhnt hatte, als Notfallmaßnahme sozusagen. Darüber hinaus würde sie damit das Haus vollstinken und potentielle Käufer abschrecken.
Nachher würde es noch genug zu tun geben. Das Begräbnis, die Testamentseröffnung, die Steuerrechnung, das Haus verkaufen oder vielmehr, das Haus renovieren und es dann verkaufen. Es würde ein Albtraum werden; aber der Stress, den das mit sich brachte, würde auch eine Erleichterung sein. Im Augenblick jedoch gab es nichts zu tun. Der Krebshilfeverein sagte ganz unverhohlen, dass es bei ihnen üblich war, ihre Krankenschwestern erst in den allerletzten Tagen vorbeizuschicken. Sie wusste also, dass es sich nur noch um Stunden handeln konnte, bis ihre Mutter starb. Trotzdem schien sich die Zeit unendlich auszudehnen.
Am Abend kam Joanna in ihrer Schwesterntracht ins Wohnzimmer, wo Mary vor dem Fernseher saß, das heftige Verlangen nach einer Zigarette zu bekämpfen versuchte und East Enders schaute, obwohl »schauen« vielleicht zu viel gesagt war. Joannas Körpersprache war plötzlich anders geworden. Sie hatte dieHände vor ihrem Schoß gefaltet, wie ein Schulkind, das sich für eine Strafpredigt vor den Lehrer stellt.
»Ich glaube, Sie sollten jetzt nach oben kommen«, sagte sie, und auch ihre Stimme klang anders. Mary ging nach oben ins Schlafzimmer. Während sie die Treppen hinaufstieg, wünschte sie sich, die zehn Sekunden, die das dauerte, würden viel mehr Zeit in Anspruch nehmen. Als sie die offene Tür erreichte, konnte sie sofort erkennen, dass ihre Mutter ganz anders atmete als vorher. Es war ein wesentlich flacheres Geräusch, das jedoch viel tiefer aus ihrer Brust zu kommen schien, und es hatte einen kratzigen Unterton. Mary drehte sich um und schaute fragend die Krankenschwester an, die daraufhin mit dem Kopf eine auffordernde Geste machte. Mary verstand: Das sollte heißen: Setzen Sie sich zu Ihrer Mutter ans Bett und nehmen Sie ihre Hand. Das tat sie dann auch.
Petunias Hand war ganz warm. Mary war erstaunt, wie warm. Die Atmung ihrer Mutter klang unnatürlich, aber es wirkte nicht, als würde sie nach Luft ringen; es war eine viel tiefergehende Veränderung. Mary versuchte, sich vorzustellen, was im Kopf ihrer Mutter, in ihrem tiefsten Innern gerade vor sich ging. War es eine Abfolge von Bildern, von Erinnerungen aus der Kindheit – flüchtige Ahnungen von Dingen, die sie genau in diesem Haus vor so vielen Jahrzehnten erlebt hatte? Ihr Vater und ihre Mutter, ihr Weg zur Schule, die Geburt ihrer Kinder, die Tausenden von Mahlzeiten, die sie hier gekocht und gegessen hatte? Erlebte sie die Dinge in einer Art Traum noch einmal? Oder war sie in die Gefühle in ihrer reinsten Form eingetaucht, so dass es nichts anderes mehr gab als Angst oder Liebe oder Verlust oder sonst einen vollkommen unverfälschten Zustand? Empfand sie vielleicht nur noch Sinneseindrücke, wie Wärme, Kälte, Schmerz, Juckreiz, Durst oder eine furchtbare Mischung aus alledem? Oder schaute sie ins Licht, ging auf es zu, verschwand in ihm, wurde selbst zum Licht? War ihre Mutter womöglich schon gar nicht mehr da, und es
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