Kapital: Roman (German Edition)
ein Geländer, an dem mehrere Handschellen befestigt waren. Zwischen dem Innenraum und der Fahrerkabine war eine dicke Glaswand, und es gab noch eine separate kleine Zelle, eine Art Käfig mit einem Metallgitter, in dem man einen einzelnen Gefangen von den anderen abtrennen konnte. Shahid gingen lauter willkürliche und vollkommen unpassende Gedanken durch den Kopf. Einer davon war: Wenn ich Hannibal Lecter wäre, dann würden sie mich jetzt darin einsperren.
Die beiden Polizisten, die ihn mittels Stoßen und Schieben in den Transporter verfrachtet hatten, setzten sich zu beiden Seiten neben ihn, so dass sich nun vier Polizisten mit ihm im hinteren Wagenteil befanden. Die Tür wurde von außen zugeschlagen, und der Transporter fuhr los. Die beiden Polizisten, die ihm gegenüber saßen, starrten ihn an. Einer lächelte, der andere machteein grimmiges Gesicht. Der mit dem grimmigen Gesicht kaute einen Kaugummi. Niemand hatte bisher ein Wort mit Shahid gesprochen, und er merkte, wie ihn zusätzlich zu der Verwirrung, Wut und Angst auch eine gewisse Bockbeinigkeit erfasste. Was auch immer das hier soll, es ist vollkommen indiskutabel, und ich werde dabei nicht mitmachen.
Der Transporter fuhr sehr schnell. Um diese Uhrzeit waren die Straßen noch leer.
71
Aus allen Krimis, die Shahid in seinem Leben schon gesehen hatte, wusste er, dass man ihm als Nächstes seine Rechte vorlesen würde, und dieser ganze Kram von wegen Sie brauchen jetzt nichts zu sagen, aber wenn Sie es nicht tun, heißt das, dass Sie schuldig sind. Dann würde man ihn zu einem Schalter in einer Polizeistation führen, ihn offiziell verhaften, seine Daten aufnehmen, und irgendwann würde man ihm dann erlauben, seinen Anwalt anzurufen. Wenn man Glück hatte, dann war der für den Fall verantwortliche Ermittler so wie Helen Mirren in Prime Suspect , und wenn man Pech hatte, wie David Jason in A Touch of Frost , aber letztendlich waren sie tief im Innersten alle gleich: anständig, hart, aber fair und immer auf der Suche nach der Wahrheit.
Aber so lief es nicht. Der Transporter, der mit großem Getöse durch die Straßen polterte, in dessen Innern es jedoch ganz still war, fuhr ungefähr zwanzig Minuten lang und hielt dann in einer unterirdischen Garage. Shahid wurde mit Gewalt aus dem Wagen gezogen und dann in einen Aufzug gestoßen; die ganze Zeit in Begleitung der vier Polizisten. Man führte ihn einen Gang hinunter, der in einem typischen Anstaltsgrün gestrichen war, schubste ihn in einen hell erleuchteten Raum und ließ ihn dann allein. Niemand hatte bisher auch nur ein einziges Wort mit ihm gesprochen.
In einer Ecke des Raumes war eine Toilette, die keinen Deckel hatte und jetzt, wo er näher hinschaute, sah er, dass auch der Sitz fehlte. Shahid starrte sie einen Moment lang an. In einem Zimmer gab es normalerweise keine Toilette. An der Decke hingen vier Neonröhren. Eine von ihnen flackerte leicht, wodurch der Raum einen schwankenden, unebenen Eindruck vermittelte und man sich so fühlte, als stimme irgendetwas nicht mit dem Kopf und alswäre man im Begriff, einen Schlaganfall zu erleiden oder ein Aneurysma oder vollkommen durchzudrehen. Es gab einen einzelnen Klappstuhl, einen Tisch mit einer abwaschbaren Tischdecke aus Plastik und in einer Ecke des Raumes eine waagerechte Planke – nein, jetzt, wo er näher hinsah, stellte er fest, dass es gar keine Planke war. Es war ein schmales Einzelbett, auf dem Bettzeug lag, das man so eng zusammengefaltet hatte, dass es aussah wie eine Tischdecke. Ein Kissen gab es nicht. Es war so früh am Morgen, und die Dinge, die ihm passiert waren, waren so furchtbar, dass sein Gehirn nicht richtig funktionierte, aber jetzt begriff er: Das hier war eine Gefängniszelle. Er war in einer Zelle. Etwas war ganz furchtbar unheimlich, unverständlich, grotesk schiefgelaufen. Und er hatte auch schon eine Ahnung, was. Es blieb eigentlich gar keine andere Möglichkeit. Aber im Augenblick konnte er nichts anderes tun, als zu warten.
72
Kriminalinspektor Mill hatte ein Talent dafür, zwischen Dingen zu unterscheiden, die unbedingt getan werden mussten, und solchen, die überflüssig waren – zwischen reiner Arbeitsbeschaffung und wirklich notwendiger Arbeit. Und er war gut darin, andere Leute mit etwas zu beauftragen und sie dann einfach machen zu lassen. Klare Anweisungen geben und dann freie Hand lassen, das war seine Devise. Er freute sich auf eine Zeit, in der er sie auch den ganzen Tag anwenden konnte.
Im
Weitere Kostenlose Bücher