Kapital: Roman (German Edition)
juristische Beratung unterzeichnet.«
»Entschuldigen Sie, wenn ich das so sage, aber das ist beschissener Unsinn.«
»Die Polizei hat ein Schriftstück, ich habe es gesehen.«
»Dann handelt es sich um eine Fälschung. Sie haben meine Unterschrift gefälscht.«
»Okay, ich glaube Ihnen. Aber für den Moment müssen wir davon ausgehen, dass das keinen Unterschied macht. Hat man Sie schlecht behandelt? Werden Sie angemessen ernährt, erlaubt man Ihnen zu schlafen, werden Sie körperlich misshandelt, werden Ihre religiösen Überzeugungen respektiert, werden Sie bedroht, sei es körperlich oder auf eine andere Weise?«
Noch während sie sprach, schlug sie in dem Notizbuch eine andere Seite auf. Dort stand:
»Sagen Sie nichts, das man irgendwie gegen Sie verwenden kann.«
Das war für Shahid ein bisschen viel auf einmal. Was er hauptsächlich fühlte, war die plötzliche Verbindung zu seiner Familie da draußen: zum pummeligen Ahmed, zum nervigen Usman, zur schönen Rohinka und zu Mrs Kamal, die jeden zur Weißglut brachte und die – das spürte Shahid, auch wenn er nichts davon gehört hatte und nicht wusste, was dort draußen vor sich ging – von allen am meisten für ihn kämpfte. Wieder traten ihm die Tränen in die Augen. Die Anwältin bemerkte, dass er um Fassung rang, und legte ihm eine Hand auf die Schulter.
»Machen Sie sich keine Sorgen, wir müssen nicht alles auf einmal besprechen. Ich komme wieder.«
Mit tränenerstickter Stimme sagte Shahid: »Man hat mir ein Sandwich mit Schinken gebracht. Am ersten Morgen. Aber dann haben sie es begriffen.« Und im nächsten Moment brach er in sich zusammen und fing fürchterlich an zu weinen, mit jeder Faser seines Wesens, so dass es ihm schon fast körperlich wehtat. Und während er weinte, hatte er das Gefühl, dass sich in seinem Innern etwas auflöste, wie ein Eisberg, oder eine riesige Glasscheibe, die in tausend Stücke zersprang. Das alles geht mir ziemlich an dieSubstanz, dachte Shahid, während er weinte. Es reibt mich viel mehr auf, als ich gedacht hätte.
Fiona Strauss blieb eine ganze Stunde. Als sie ging, holte sie etwas aus ihrer Handtasche, das in einen Seidenschal gewickelt war, und reichte es Shahid. Es war sein Koran.
81
Von diesem Moment an war ein neuer Abschnitt in der Haftzeit Shahids angebrochen. Der erste Teil war formlos und verschwommen gewesen. Er konnte sich im Nachhinein auch nicht mehr erinnern, wie lange er gedauert hatte, oder in welcher Reihenfolge die Dinge passiert waren, oder überhaupt an irgendetwas, das dem Geschehen eine gewisse Ordnung verliehen hätte. Er hatte zwar einige Erinnerungen – an den Durchfall zum Beispiel, oder den Moment, wo er sich mit Tee besudelt hatte, an die ungenießbaren Fischstäbchen, die so hart waren, dass er mit ihnen auf den Tisch hätte trommeln können, und an den Tag, als ihn alle vier Vernehmungsbeamte gleichzeitig in die Zange genommen hatten – aber im Großen und Ganzen schien ihm alles sehr vage, als sei die Zeit wie in einem bösen Traum vorübergegangen. Dann war Fiona Strauss gekommen, und die Zeit hatte wieder eine Form bekommen. Er wartete auf ihren nächsten Besuch und freute sich darauf. Jetzt waren seine Tage an bestimmten Ereignissen ausgerichtet. Es war sehr seltsam.
Und jetzt hatte er auch seinen Koran. Er war in den grüngoldenen Seidenschal eingeschlagen, den sein Vater ihm vor über zwanzig Jahren gegeben hatte, ganz unerwartet und ohne besonderen Anlass. Er kam einfach nur eines Tages von der Arbeit nach Hause und drückte ihm den Schal in die Hand. Shahid war nicht fromm und hätte auch nie behauptet, es zu sein – selbst in der Zeit nicht, als er auf seine abenteuerliche Reise gegangen war. Er hatte das damals viel mehr aus einem Gefühl der Solidarität heraus getan – wegen der Brüderschaft innerhalb der Umma – als aus rein religiöser Überzeugung. Er war ein einigermaßen akzeptabler Muslim; eher Mittelmaß. Und er würde auch nicht behaupten, dass er nun von einem Moment auf den anderen zu einem frommenGläubigen geworden war. Aber an dem Tag nach Fiona Strauss’ erstem Besuch betete er fünf Mal, nachdem er den Wärter, der ihm sein Frühstück brachte, nach der Richtung gefragt hatte, in der Mekka lag. Der Beamte hatte es ihm sofort gesagt, als hätte er schon die ganze Zeit auf diese Frage gewartet. Shahid stellte fest, dass es ein riesiger Unterschied war, ob man sich in dem ekligen Metallwaschbecken die Hände wusch, weil es eben keinen anderen
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