Kapital: Roman (German Edition)
Ort dafür gab, oder weil man sich bewusst entschieden hatte, das als Teil der rituellen Waschung vor dem Gebet zu tun. Die räumliche Aufteilung der Zelle nahm in Shahids Kopf eine ganz neue Gestalt an. Die Zelle war jetzt sein ganz persönlicher Ort, und er hatte sich entschieden, darin zu beten. Zum ersten Mal seit seiner Verhaftung hatte er das Gefühl, dass er nicht nur jemand war, dem etwas zustieß, der passiv war, mit dem in irgendeiner Form umgesprungen wurde. Nun konnte er selbst entscheiden, was er von dem, was mit ihm geschah, halten sollte. In seinen Gedanken war er frei.
Als er an jenem Tag seinen Befragern gegenübersaß und wieder dieselben Fragen durchging, fühlte Shahid sich vollkommen anders. Er hatte das Gefühl, dass eigentlich die Vernehmungsbeamten die Gefesselten waren und sie im engen Kreis ihrer eigenen Verdächtigungen gefangen saßen. Das Einzige, was sie tun konnten, war, sich zu wiederholen. Er selbst war freier als sie. Es war fast schon lustig. Sie hatten ein Drehbuch, an das sie sich halten mussten. Er war allein – allein vor Allah –, aber frei. Sie hingegen steckten alle zusammen in der Sache fest und konnten keine eigene Wahl treffen.
Sich als Teil einer Religionsbrüderschaft zu fühlen war Shahid immer schon leichtgefallen. Dieses Gefühl hier war schwerer zu fassen. Aber gerade dieses schwierige Gefühl hatte Shahid am Islam immer am meisten gemocht: das Alleinsein vor Gott. Nicht den Imam oder die Umma, sondern dass du allein vor Gott stehst. Es ist niemand da, der vermittelt. Shahid fühlte das nun viel reiner und unverfälschter als jemals zuvor: der Kontrast zwischen dermenschlichen Welt der Institutionen und der ehrfurchtgebietenden Einzigartigkeit Gottes. Auf der einen Seite gab es die Plastiktische, die Polizisten und ihre Fragen, das Plastikbesteck auf dem unzerbrechlichen Plastiktablett, Regeln und menschliche Kleinlichkeit, wo man nur hinschaute; und auf der anderen Seite nichts als du selbst, der du ganz allein dem Unendlichen gegenüberstehst. Die Religion, in der Shahid erzogen worden war, war nie zuvor so weit in sein Innerstes vorgedrungen wie in diesem Augenblick. Er fühlte sich ergriffen von der berauschenden Kargheit eines Glaubens, der in der Wüste geboren worden war. Ich bin höchstens achtundzwanzig Tage hier, sagte er sich; danach müssen sie Anklage erheben, und es gibt nichts, für das sie mich anklagen können, nicht das Geringste. Okay, Iqbal plante also irgendetwas. Vielleicht war er ja auch gar nicht gerissen genug, um überhaupt auszuführen, wessen sie ihn verdächtigten. Aber er plante etwas. Und ja, Iqbal hatte in seiner Wohnung gewohnt. Aber kein britisches Geschworenengericht konnte ihn deshalb ins Gefängnis schicken. Es gab keinerlei Möglichkeit, ihn eines Verbrechens anzuklagen. Und selbst wenn man es tat, dann war es ihm egal, weil er unschuldig war. Und weil er allein vor Allah stand. Nein, das stimmte nicht ganz, es war ihm nicht egal, ganz und gar nicht. Aber es gab da einen Teil von ihm, an den die Geschehnisse und das, was auch immer ihm als Nächstes widerfahren würde, nicht heranreichen konnten. Ein Teil von ihm war unantastbar.
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Shahid wusste es zwar nicht, aber ganz in seiner Nähe gab es noch einen weiteren Anlass zur Hoffnung. Die Polizeibeamten, die ihn vernahmen, waren sich keineswegs einig, dass er überhaupt ins Gefängnis gehörte.
Der Geheimdienst war schon seit einiger Zeit an Iqbal interessiert. Er gehörte zu einer Gruppe von Radikalislamisten, die in Afghanistan trainiert und in Brüssel ihren Sitz hatten und von denen bekannt war, dass Verbindungen zu Al-Qaida-Gruppen in Pakistan bestanden. Bei seinem Eintreffen in Großbritannien gehörte er zwar noch nicht zu denen, die vom MI5 und der Sicherheitspolizei aufs Engste überwacht wurden, aber man behielt ihn im Auge, im Rahmen des allgemeinen Interesses, das all jenen galt, die auch nur das Geringste mit Al-Qaida zu tun hatten oder gerne hätten. Dann war jedoch durch die Ermittlungen der belgischen Polizei eine Verschwörung aufgeflogen, deren Ziel es gewesen war, auf einer der Ärmelkanalfähren eine Bombe hochgehen zu lassen und das Schiff zu versenken. Weil es sich bei den daran beteiligten Männern um Bekannte von Iqbal Rashid handelte, widmete man ihm von nun an erhöhte Aufmerksamkeit. Zunächst wurde er zwei Wochen lang intensiv überwacht, um zu sehen, ob er etwas im Schilde führte, und wenn ja, was. Während dieser zwei Wochen hatte er Kontakt
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