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Kapital: Roman (German Edition)

Kapital: Roman (German Edition)

Titel: Kapital: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Lanchaster
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behauptete, vielleicht taten sie einem wirklich etwas ins Essen. Aber er wusste, dass er, sobald er, oder besser gesagt, falls er je hier rauskam, eine Freundin haben wollte. Es war ein ganz allgemeiner Wunsch, er hatte dabei gar nichts Konkretes im Sinn. Eine nette, wohlerzogene Muslimin, eine Jungfrau, die wahnsinnig scharf darauf war, Sex zu haben, das wäre genau das Richtige. Aber eigentlich ging es ihm viel eher darum, jemanden zu haben, mit dem er abhängen konnte, eine Person, in deren Gesellschaft er morgens aufwachen und mit der er Fernsehen schauen konnte, mit der er ausgehen oder zu Gap gehen konnte, um T-Shirts anzuprobieren. Eine Frau. Die Frau aus der U-Bahn, die, die er damals über die Anzeige unter »Verlorene Bekanntschaften« zu finden versucht hatte und die ihm immer noch manchmal durch den Kopf spukte.
    Er dachte an Ahmed und Rohinka und Mohammed und Fatima und war sogar in der Lage zuzugeben, dass er seinen fetten, bedächtigen, bodenständigen und vorsichtigen großen Bruder beneidete.
    Er dachte an Mrs Kamal und schaffte es fast, bei dem Gedanken daran zu lächeln, durch welche Höllenqualen sie wohl gerade den Rest der Familie jagte. Und auch die Polizisten und Anwälte und alle anderen Personen, die in ihren Dunstkreis gerieten.
    Er dachte darüber nach, was er mit dem Rest seines Lebens anfangen würde, sobald – oder falls – er hier rauskam. Die Polizei zuverklagen, weil man ihn widerrechtlich verhaftet, seine Rechte missachtet und ihn ohne jeden Grund eingesperrt hatte … das war die eine Möglichkeit. Aber Shahid wusste, dass er das nicht tun würde. Er spürte hier drinnen, wie die Zeit verging, spürte es sehr genau, deutlicher, als er es je zuvor in seinem Leben wahrgenommen hatte. Zeit, die verstrich, die einfach nur verstrich. Das war das Paradoxon dieses Ortes. Man war eingesperrt, jeder Tag war gleich, nichts passierte, außer dass man immer dieselben Fragen gestellt bekam und immer dieselben Antworten gab, so dass jeder Tag sich gewissermaßen im Zeitlupentempo um sich selbst drehte, so dass jede Stunde sich anfühlte, als dauerte sie mehrere Tage – das ging schon so weit über Langeweile hinaus, dass es sich um einen vollkommen anderen Zustand handelte. Und doch wurde man sich dadurch bewusst, auf grausame Weise bewusst, mit welcher Geschwindigkeit die Zeit an einem vorbeirauschte. Shahid konnte spüren, wie ihm sein Leben durch die Finger glitt. Er war dreiunddreißig Jahre alt, und was hatte er bisher erreicht? Wie groß würde das Loch sein, das er in der Welt hinterließ, falls er hier niemals rauskäme? Er musste unbedingt etwas tun – eine ordentliche Arbeit finden, nicht mehr im Laden, er musste sein Studium wieder aufnehmen, seinen Abschluss machen und einen echten Job finden, ein echtes Leben führen.
    Er dachte daran, dass heute sein neunzehnter Tag im Gefängnis war, der neunzehnte Tag, seit man ihn verhaftet hatte.
    Und dann dachte er an sein Frühstück. Mittlerweile würde es kalt sein, aber es war ohnehin immer höchstens lauwarm, wenn es durch seine Tür geschoben wurde. Heute gab es Rührei und Toast. Das Rührei war viel zu lange gegart worden, so dass es ganz körnig war und leicht nach Schwefel roch. Auf eine der beiden Toastscheiben hatte man nur sehr dünn Butter geschmiert, eine verschwindend geringe Menge, und auf die andere zum Ausgleich eine fast anderthalb Zentimeter dicke Schicht. Der Tee war sogar in noch heißem Zustand ungenießbar. Shahid ließ ihn stehen und aß seine kalte Mahlzeit, wesentlich langsamer, als er es zu Hause getan hätte.
    Manche Polizeibeamte und Aufseher konnte man kommen hören, manche nicht. Dieser hier gehörte zur zweiten Sorte. Es gab ein scharrendes Geräusch, und die Zellentür wurde geöffnet, von einem Beamten, der in seiner linken Hand einen riesigen Schlüsselring trug, wie man ihn eigentlich nur aus Zeichentrickfilmen kannte.
    »Sind Sie so weit?«, fragte der Beamte.
    Shahid zuckte mit den Schultern. »Wofür?« Das war eine neue Methode von ihm – wann immer es möglich war, beantwortete er eine Frage mit einer Gegenfrage.
    »Haben Sie Ihren Kram zusammengepackt?«
    »Warum? Wovon reden Sie eigentlich?«
    »Hat man Ihnen nicht Bescheid gesagt?« Jetzt schien auch der Beamte Geschmack an dem Frage-Gegenfrage-Spiel gefunden zu haben.
    »Sieht es so aus, als hätte man mir Bescheid gesagt? Worum auch immer es gehen mag?«
    »Oh.« Der Beamte gab ein kurzes, bellendes Lachen von sich. »Tja, das ist aber jetzt

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