Kapital: Roman (German Edition)
echt typisch. Sie werden heute entlassen. Genauer gesagt, jetzt sofort. Ihre Anwältin und Ihre Familie sind hier, um Sie abzuholen.«
Shahid hätte es nicht für möglich gehalten, dass ein Gedanke oder ein Gefühl eine derart starke körperliche Empfindung sein konnte. Er spürte, wie sein Herz zu rasen begann und das Blut ihm in den Kopf stieg. Er stand ruckartig auf und stieß dabei heftig mit den Oberschenkeln gegen den Tisch. Der ungenießbare Tee ergoss sich auf den Boden seiner Zelle.
»Das ist doch ein Scherz, oder?«
Aber der Polizeibeamte genoss die Panne, die hier passiert war, offensichtlich so sehr, dass er unmöglich einen Scherz gemacht haben konnte. Diese Panne hatte sein Weltbild bestätigt und ihn daher sehr glücklich gemacht.
»Das ist echt typisch. Egal, worum es sich handelt, dem, den es am meisten betrifft, dem sagt man nie Bescheid. Dazu habensie keine Zeit. Wirklich typisch. Ein Klassiker. So läuft das hier immer.«
Shahid klaubte seinen Gebetsschal, seinen Gebetsteppich, seinen Koran, seine Zahnbürste und seinen Pullover zusammen. Dann zog er seine schnürsenkellosen Turnschuhe an.
»Ich bin soweit«, sagte er.
»Echt typisch«, sagte der Beamte ein letztes Mal, nicht zu Shahid, sondern zu der Luft im Allgemeinen, und schüttelte immer noch glücklich den Kopf. Er führte ihn aus der Zelle, die Flure entlang, die Shahid nun schon so gut kannte, und zum Fahrstuhl. Sie fuhren vier Stockwerke nach unten zu einem Büro mit einem Tresen, auf dem seine Trainingshose lag – die, die er bei seiner Verhaftung angezogen hatte. Der Gefängnisbeamte, ein fetter Mann mit kalten Augen, reichte ihm ein Klemmbrett mit einem Formular, das er unterschreiben sollte. Shahid unterschrieb. Dann führte ihn der andere Beamte durch eine Glastür mit einem Metallgitter, und da waren sie: Ahmed, Usman, Rohinka, Mrs Kamal und Mrs Prinzipientreu. Sie sprangen alle auf, als sie ihn sahen, mit besorgten und glücklichen Gesichtern und glänzenden Augen. Und dann traten auch in Shahids Augen die Tränen.
»Und wer passt jetzt auf den Laden auf ?«, versuchte er zu scherzen, aber seine Stimme versagte mitten im Satz, und das Einzige, was er herausbekam, war ein Schluchzen, während er in Tränen ausbrach.
91
Es kam Rohinka manchmal so vor, als würde sie nie schlafen – buchstäblich nie, keine einzige Sekunde. Sie wusste, das konnte nicht stimmen, denn falls sie wirklich nie schlief – nie auch nur für einen einzigen Moment wegschlummerte –, dann wäre sie längst wahnsinnig geworden oder gestorben. Aber es gab Augenblicke, in denen ihr diese beiden Möglichkeiten gar nicht mehr so weit entfernt schienen. Und dass sie zu keiner Zeit besonders gut schlief, wusste sie unter anderem auch deshalb, weil sie Fatima immer schon kommen hörte, bevor diese morgens das Elternschlafzimmer betrat – was nach halb sechs jederzeit passieren konnte. Vielleicht war sie ja auch einfach nur so gut auf die Schlafgewohnheiten ihrer Tochter eingestellt, dass der erste Schritt, den Fatima machte, sie sofort aus ihrem leichten, vorahnungsvollen Schlaf riss. Das war die wahrscheinlichere Variante, dachte Rohinka. Auch wenn es nicht viel Unterschied machte. So oder so befand sie sich jeden Tag die ganze Zeit gefährlich nah am Rand der Erschöpfung.
Auf jeden Fall war sie immer schon wach, wenn ihre Tochter ins Zimmer kam und ihr bewährtes Drei-Schritte-Programm zum Aufwecken ihrer Mutter durchführte: Als Erstes blieb sie ungefähr eine Minute lang einfach neben dem Bett stehen – sehr, sehr nah am Bettrand, im Idealfall ungefähr einen halben Zentimeter – und wartete auf das erste Lebenszeichen. Der zweite Schritt war, dass sie ihrer Mutter auf die Schulter klopfte – eine Berührung, die irgendwo zwischen einem leichten Klaps und einem Tätscheln lag –, keineswegs heftig und geradezu respektvoll, aber dennoch entschlossen und beharrlich. Als Drittes krabbelte sie aufs Bett und benutzte Rohinka als Kletter- und Spielgerüst, so als befände sie sich mitten auf einem Spielplatz, und wälzte sich dann in dieLücke neben sie. Zu diesem Zeitpunkt war es für Rohinka bereits vollkommen sinnlos geworden, noch so zu tun, als schliefe sie.
Auch heute war das nicht anders. Sie hörte Fatima schon im Flur, die leichten, entschlossenen Schritte, ohne jede Eile und mit ominöser Zielstrebigkeit. Mohammed, der in seinem Kinderbettchen im Elternschlafzimmer lag, machte – wie meistens – noch keine Anstalten, aufzuwachen. Das
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