Kapital: Roman (German Edition)
nachahmte. Mrs Kamal saß neben ihm und hatte ihren Pass, ihr Ticket und die anderen Reisedokumente in genauester Ordnung auf dem Tisch ausgebreitet. Zu ihrer anderen Seite saß Mohammed in seinem Kinderstuhl und schlief noch halb. Er war keineswegs quengelig, aber auch noch nicht ganz bei Bewusstsein und aß weder etwas, noch kümmerte er sich um seine Umgebung. Stattdessen saß er seitwärts zusammengesunken da und wirkte mit seinen dünnen Härchen und dem pummeligem Leib ganz so wie ein Sultan, der sich von einer schweren Mahlzeit erholt. Sein neben ihm sitzender Vater sah ebenfalls müde aus, was den beiden eine große Ähnlichkeit verlieh. Manchmal konnte Rohinka zwischen ihnen gar keine Verwandtschaft entdecken, aber jetzt war sie unverkennbar. Sie sahen wie Zwillinge aus, wenn auch mit einem Altersunterschied von fünfunddreißig Jahren.
Mrs Kamal klappte laut und vernehmlich ihre Handtasche zu.
»Es ist Zeit zu gehen«, sagte sie.
»Usman hat schon das Auto vorgefahren«, sagte Ahmed. Er würde seinen Bruder und ihre Mutter allein zum Flughafen begleiten; Shahid war mit Mrs Strauss, der Rechtsanwältin, verabredet. Sie verabschiedeten sich voneinander und stellten sich dann alle vor das Geschäft auf die Straße, wo Usman am Steuerdes Sharan saß und das Warnblinklicht eingeschaltet hatte. Ahmed hievte Mrs Kamals Gepäck in den Kofferraum des Minivans. Sie war mit zwei Koffern und dem größten Handgepäcktrolley angereist, den Rohinka je gesehen hatte: mit ausgezogenem Griff war er fast so groß wie sie selbst.
Als sie ihrer Schwiegermutter gegenüberstand, wurde sie plötzlich von einem Gefühl übermannt, mit dem sie auch nicht im Geringsten gerechnet hatte: Sie empfand große Zuneigung. Sie hatte gesehen, wie Mrs Kamal sich verhielt, während Shahid im Gefängnis war, und das würde sie nie vergessen. Sie wünschte sich aus tiefstem Herzen, dass Fatima und Mohammed niemals in so große Schwierigkeiten geraten würden, aber wenn doch, dann hoffte sie, dass sie dem Beispiel ihrer Schwiegermutter alle Ehre machen würde. Aber ein solcher Gedanke ließ sich nur schwer in Worte fassen, und deswegen versuchte sie es erst gar nicht. Vielleicht musste sie das ja auch nicht. Mrs Kamal stand vor ihr, drückte ihren Arm und sagte mit einem amüsierten, wissenden Blick in den Augen – als sei sie eine Theaterschauspielerin, die sich beim Schlussapplaus verneigt:
»Tochter. Es war ein ereignisreicher Besuch.« Und dann drehte Mrs Kamal sich um, stieg ins Auto und sagte: »Und jetzt ist es an der Zeit, sich um dieses Ticket-Upgrade zu kümmern.«
VIERTER TEIL
November 2008
92
Was ist das Schlimmste, was passieren kann? Roger hatte das immer für eine blöde Frage gehalten. Wenn man es schwierig fand, sich vorzustellen, wie schlimm etwas werden konnte, dann hieß das einfach nur, dass man nicht genug Fantasie hatte.
Rogers ehemalige Kollegen bei Pinker Lloyd brauchte man schon gar nicht mehr zu fragen, was das Schlimmste war, was passieren konnte. Es war fantastisch: Die gesamte Bank war untergegangen. Der Skandal um die kriminellen Handelsgeschäfte in Rogers Abteilung war zwar nicht riesig gewesen, aber doch groß genug, um ein paar Gerüchte über die Bank in die Welt zu setzen. Das hatte zu einigen skeptischen Blicken auf die Bilanzen geführt, und das ausgerechnet zu einer Zeit, als in den Kapitalmärkten nach der Implosion bei Lehman Brothers die Nerven blank lagen. Man hatte begonnen, Pinker Lloyds Exposure bei den Darlehen mit kurzer Laufzeit zu hinterfragen, und auch, wie sehr die Bank darauf angewiesen war, im internationalen Kapitalmarkt schnell, leicht und unkompliziert Anleihen aufzunehmen. Praktisch über Nacht versiegten die Kreditquellen: Die Kreditgeber zogen ihre Anleihen zurück, und die Kunden hoben ihr Geld ab; man war gezwungen, die Bank von England um Hilfe zu bitten, die zögerte und schwankte, und von einem Moment auf den anderen war Pinker Lloyd aus dem Geschäft. Es wurde ein Konkursverfahren gegen die Bank eingeleitet; die Vermögenswerte wurden zerstückelt und verkauft, und die gesamte Belegschaft wurde entlassen. Lothar war öffentlich gedemütigt worden. Roger war begeistert. Für einen solchen Schicksalsschlag hätte man schwerlich einen netteren Personenkreis finden können.
Er hätte also eigentlich gut gelaunt sein müssen, aber jetzt stand das Haus in der Pepys Road 51 zum Verkauf. Der Preis war auf3,5 Millionen Pfund festgesetzt worden. Sein Makler, ein Mr Travis, hatte
Weitere Kostenlose Bücher