Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Kapital: Roman (German Edition)

Kapital: Roman (German Edition)

Titel: Kapital: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Lanchaster
Vom Netzwerk:
einen mageren zweiundzwanzigjährigen Jungen. Jetzt war er unverkennbar ein Mann, dessen Jugend schon fast vorbei war und der bereits ein paar graue Strähnen im Bart und in den Haaren hatte. Sah er selbst auch so viel älter aus? Das war ein beängstigender Gedanke.
    »Ja, natürlich!«, sagte Shahid. »Wow. Was machst du hier? Das ist echt beeindruckend, dass du mich wiedererkannt hast!«
    »Ich denke oft an die Zeit damals«, sagte Iqbal. »Manche Sachen, die einem passieren, scheinen lange her zu sein, aber gleichzeitig kommt es einem vor, als wären sie erst gestern gewesen. Geht es dir nicht genauso?«
    Ach ja. Wenn Iqbal nicht gerade vor sich hin schimpfte, dann benutzte er jede Gelegenheit, um einen philosophischen Standpunkt zu vertreten. Das war immer noch derselbe Iqbal, kein Zweifel.
    »Wie geht’s Tariq? Habt ihr noch Kontakt?«
    »Manchmal verliert man sich eben aus den Augen«, sagte Iqbal und stellte damit unmissverständlich klar, dass dieser spezielle alte Freund nicht gerade zu seinen Lieblingsthemen gehörte. Aber dann hellte sich sein Gesicht wieder auf, und er fügte hinzu: »Aber manchmal findet man sich auch wieder! He, lass uns Nummern austauschen! Ich bin noch eine Weile hier. Es wäre toll, wenn wir uns treffen könnten. Über alte Zeiten reden. Über neue Zeiten reden!« Er hatte sein Handy aus der Tasche geholt, es aufgeklappt und wartete nun darauf, Shahids Nummer einzugeben. Es war wichtig, im Leben nicht zu viele Barrieren aufzubauen, dachte Shahid. Schwimm mit dem Strom. Es kommt, wie es kommt. Du bist nur einmal jung. Allahs Wille geschehe. Und so weiter und so fort. Du musst die Dinge hinnehmen, die dir passieren. Also gab Shahid ihm seine Nummer, obwohl er das dumpfe Gefühl hatte, dass da irgendetwas nicht stimmte mit seinem alten Jihad-Kumpel. Vielleicht war es der etwas zu entschlossene Gesichtsausdruck,oder sein nicht ganz überzeugender Versuch, beiläufig zu wirken. Der Belgier nickte, verabschiedete sich und verschwand.
    Shahid fragte sich, was wohl dahintersteckte.
    Dann ging er wieder zu Ali und den anderen Jungs, die sich darüber unterhielten, wer dieses Jahr Meister werden würde – das übliche Gebrabbel, das sich in einem ewigen Kreis um Chelsea, Arsenal und Manchester United drehte. Sie waren wie Sufis. Wenn sie nur lange genug weitermachten, würden sie anfangen zu schweben. Dann sagte einer von ihnen etwas so Absurdes, Verleumderisches und Unerhörtes über Ashley Cole, dass sich Shahid nicht mehr zurückhalten konnte. Kopfüber stürzte er sich in die Diskussion.

21
    Am Freitag, dem 21. Dezember, um fünf Uhr nachmittags holte Quentina Mkfesi, Bachelor und Master of Science, ihren Gehaltsscheck im Büro der Verkehrsüberwachungsfirma ab. Der Scheck belief sich auf 227 £ und war auf Kwama Lyons ausgestellt. Quentina steckte ihn in die Innentasche ihrer Jacke und machte sich zu Fuß auf den Weg nach Tooting. Dafür würde sie ungefähr eine halbe Stunde brauchen. In London herrschte reger vorweihnachtlicher Betrieb. Quentina fand das gut so: Ein Ort, an dem es naturgemäß so wenig Helligkeit und Farbe gab, konnte nur davon profitieren, wenn man dieses Manko mit Neon und Leuchtreklame und Schaufenstern und Weihnachtsbäumen wieder ein wenig ausglich.
    Quentina trug immer noch ihre Uniform; sie hatte es eilig und keine Zeit, sich umzuziehen. Weil es bereits dunkel war, traute sie sich nicht, die Abkürzung durch den Park zu nehmen, und ging auf der Straße weiter. Der Pub am Parkeingang war schon voller Leute, die ganz offensichtlich früh Feierabend gemacht hatten, um sich noch schnell ein paar vorweihnachtliche Drinks zu gönnen. Weil Weihnachten dieses Jahr auf einen Dienstag fiel, würden sich viele schon heute freinehmen, um auf diese Weise zwei ganze Ferienwochen genießen zu können. Quentina nahm ihnen das nicht übel. Sie beneidete die Leute um ihre Arbeit, nicht um ihre Freizeit. Es war kalt, aber sie hatte unter ihrer absurden ruritanischen Armeejacke ein T-Shirt, eine Bluse und einen Pullover angezogen. Quentina hatte schon vor langer Zeit gelernt, dass die beste Methode, sich im englischen Winter warm zu halten, darin bestand, ununterbrochen in Bewegung zu bleiben. Nachdem sie Balham hinter sich gelassen hatte, lief sie im Zickzackkurs durch das Wohngebiet. Die Weihnachtskränze an den Türen, die hellenWohnungslichter und all die erleuchteten Weihnachtsbäume ließen diese Londoner Wohngegend wesentlich wärmer und einladender erscheinen, als die

Weitere Kostenlose Bücher