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Kapital: Roman (German Edition)

Kapital: Roman (German Edition)

Titel: Kapital: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Lanchaster
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Land wieder zu verlassen. Nach Überschreitung der Visumsfrist hatte sie Asyl beantragt. Ihr Antrag wurde abgelehnt, sie wurde verhaftet, und die zuständige Behörde fällte den Beschluss zu ihrer Abschiebung. Aber der Richter entschied in letzter Instanz, dass man sie nicht zurück nach Zimbabwe schicken konnte, weil berechtigte Gründe zu der Annahme bestanden, dass man sie dort ermorden würde. Von da an war Quentina rechtlich gesehen nur noch halbexistent. Sie durfte kein Arbeitsverhältnis eingehen und nur Sozialhilfe beziehen, aber andererseits konnte man sie auch nicht inhaftieren oder ausweisen. Sie besaß nicht die britische Staatsangehörigkeit, konnte aber auch nirgendwo sonst hingehen. Sie war zu einer Unperson geworden.
    Der Schwebezustand, in dem zu leben sie gezwungen war, war vollkommen unwirklich: Sie hatte kein Recht, etwas zu tun, das ihr dabei helfen könnte, nicht den Verstand zu verlieren und sich finanziell einigermaßen über Wasser zu halten. Glücklicherweise kannte Quentinas Rechtsanwalt einen gemeinnützigen Verein, der sich um solche Leute wie sie kümmerte. Er hieß Die Zuflucht und betreute Menschen, die staatenlos geworden waren. Die Organisation verfügte über eine Reihe von Häusern, die im ganzen Land verteilt waren. So kam es auch, dass Quentina in einem Reihenhaus in Tooting wohnte, zusammen mit sechs anderen staatenlosen Frauen und einem Hausverwalter. Der Verein trennteAngehörige derselben Nationalität voneinander, weil man verhindern wollte, dass sich in den Häusern nationale Cliquen bildeten, und weil man glaubte, die Flüchtlinge würden schneller Englisch lernen, wenn sie nicht andauernd mit Landsleuten zusammen waren. Quentina hielt das für einen Fehler, aber es war ja schließlich nicht ihr Verein. Also teilte sie das Haus mit einer Sudanesin, einer Kurdin, einer Chinesin, die erst am Tag zuvor eingetroffen war und noch kein einziges Wort von sich gegeben hatte, einer Algerierin und zwei osteuropäischen Frauen, deren genaue Landeszugehörigkeit Quentina nicht kannte.
    Es war nicht einfach, mit diesen Leuten in dem Zuflucht-Haus zu wohnen. Und arbeiten zu gehen war sogar noch schwieriger. Der Verein versorgte seine »Kunden« – das war das Wort, das sie benutzten – mit Nahrungsmitteln, war aber gesetzlich nicht befugt, ihnen auch Geld zu geben. Quentina musste feststellen, dass sie absolut nicht zum Nichtstun geboren war. Im Haus rumzusitzen und kein eigenes Einkommen zu haben, über das sie verfügen konnte – das alles verursachte ihr akute Klaustrophobie. Sie hatte das Gefühl, in ihrem eigenen Kopf gefangen und vollkommen machtlos zu sein. Und noch schlimmer wurde alles dadurch, dass sie ja wirklich absolut machtlos war und keinerlei Einfluss auf ihr eigenes Schicksal hatte, jedenfalls nicht in den wesentlichen Punkten. Also hatte sie beschlossen, etwas mit ihrer Zeit anzufangen, damit sie nicht den Verstand verlor.
    Unter den Flüchtlingen gab es genau zu diesem Thema Mundpropaganda, durch die sie mit »Kwame Lyons« in Kontakt gekommen war. Man erzählte sich, dass er jemanden kannte, der einem Ausweispapiere und somit auch Arbeit verschaffen konnte, solange man bereit war, ihm auch seinen Anteil zu bezahlen. Quentina hatte keine Ahnung, für wie viele Leute er diesen Service zur Verfügung stellte, aber sie wusste genau, dass sie unmöglich Lyons’ einzige »Kundin« – da war es schon wieder, dieses Wort – sein konnte. Wie viele »Kunden« Lyons hatte, wie er an die Ausweispapiere kam, ob er die Identität »Kwame Lyons« auch für alleanderen benutzte, wie viel Geld er damit verdiente und was sein wirklicher Name war, wusste Quentina nicht und wollte es auch nicht wissen.
    Man hatte ihr gesagt, die besten Chancen auf einen Job bestünden bei einem privaten Taxiunternehmen, das bekannt dafür war, auch Fahrer mit zweifelhaften Papieren einzustellen. Aber sie hatte auch gehört, dass man dort erstens keine Frauen beschäftigte und dass die Firma zweitens Eigentum einer der großen kriminellen Familien im Londoner Süden war und der Geldwäsche diente. Die falschen Ausweispapiere waren schon genug Illegalität für Quentina, die eigentlich vom Wesen her sehr gesetzestreu war und es vorzog, so wenig wie möglich gegen die Regeln zu verstoßen. Daher war es auch umso ironischer, dass sie nun in dieser gesetzlosen und staatenlosen Existenz gefangen war. Aber so war es eben. Also folgte sie dem Rat eines Hilfspolizisten, den sie auf der Straße getroffen

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