Kapital: Roman (German Edition)
hatte, ein Mann aus Sambia, der ihr von der Verkehrsüberwachungsfirma erzählte und dabei erwähnte, dass man dort auch viele West- und Südafrikaner einstellte. Sie hatte ihre falschen Papiere genommen, ein Bewerbungsformular und einen Testbogen ausgefüllt und den Job bekommen. Und hier war sie nun, achtzehn Monate später, mit der niedrigsten Rate von stattgegebenen Einsprüchen in der ganzen Firma.
Während Quentina sich der Gegend näherte, in der das Wohnheim lag, merkte sie, dass sie müde wurde. Sie war schon den ganzen Tag auf den Beinen gewesen, und auch wenn sie daran gewöhnt war, taten ihr trotzdem die Füße weh. Wenn sie Glück hatte, würde noch ein bisschen heißes Wasser übrig sein. Sie war die einzige »Kundin« mit einem regelmäßigen Job und daher die Einzige, die nach fünf nach Hause kam und um diese Uhrzeit ein Bad oder eine Dusche brauchte. Quentina war immer schon geradezu pingelig auf Sauberkeit bedacht gewesen, aber bevor sie in dieses kalte Land gekommen war, hatte sie nie gewusst, was Baden heißt. Unter den hiesigen Bedingungen war es ein riesiges körperliches Vergnügen, sich lange und ausgiebig in dampfendheißem Wasser zu aalen. Morgen hatte sie frei. Das war einer der Gründe, warum sie von Glück sagen konnte, dass sie Arbeit hatte, denn jetzt konnte sie ihre Freizeit genießen. Sie würde sich eine DVD anschauen, sich einen Drink gönnen, vielleicht tanzen gehen oder sich umhören, ob es irgendwo eine Party gab. Quentina wusste, dass sie vielleicht besser ihren Anwalt anrufen sollte, um zu hören, ob es etwas Neues gab, denn es war der letzte Freitag vor Weihnachten, und über die Feiertage würde nichts weiter passieren, aber sie hatte absolut keine Lust dazu. Falls es gute Neuigkeiten gab, würde man ihr das schon mitteilen. Und falls es schlechte waren, dann würden sie durch die Verzögerung kaum schlechter werden. Am allerwahrscheinlichsten war es ohnehin, dass es überhaupt keine Neuigkeiten geben würde und ihr Status der Nicht-Existenz einfach weiterging. Aber so stand es ja schon in der Bibel: Bist du lauwarm, so spucke ich dich aus! Quentina empfand sich selbst nicht als lauwarm, aber es ließ sich kaum abstreiten, dass sie ausgespuckt worden war.
An der Ecke der Straße, in der sie wohnte, war eine afrikanische Frau mit einer riesigen Tüte voller Süßkartoffeln stehen geblieben, um wieder zu Atem zu kommen. Sie war wahrscheinlich zum Einkaufen auf dem Markt in Brixton gewesen. Die Frau schaute Quentina abschätzend an, während sie an ihr vorbeiging. Ich hätte nichts dagegen, heute Abend bei ihr mitzuessen, dachte Quentina beim Anblick der Süßkartoffeln. Ach egal, jetzt war sie ja schon fast zu Hause. Na ja, nicht gerade zu Hause, aber da, wo sie wohnte. Quentina bog um die Ecke. Sie trug nach wie vor ihre Politessen-Uniform, war immer noch die unbeliebteste Frau in der ganzen Straße und verbreitete weiterhin Angst und Schrecken, wo immer sie auch hinging.
22
Immer dann, wenn er einen wichtigen Termin in der Arbeit hatte, tat Roger etwas, das eigentlich eher zu einer Frau gepasst hätte, weswegen er auch keiner Menschenseele davon erzählte: Er machte ein Riesentheater um seine morgendliche Wäsche und Körperpflege. Er duschte und rasierte sich wie gewöhnlich, massierte Shampoo und Conditioner in seine Haare, legte dann eine Feuchtigkeits-Gesichtsmaske auf und ließ sie zehn Minuten einwirken, beschnitt vereinzelte Härchen in seiner Nase und seinen Ohren, rieb etwas Hautöl auf seine Beine und seine Brust, schluckte Vitamintabletten und etwas Artischockenextrakt für seine Leber, machte ein paar Dehnübungen und ging in seinem Bademantel nach unten, um eine Schüssel Haferbrei zu essen, den er sich in der Mikrowelle aufwärmte. Dann zog er das Beste an, was sein Schrank zu bieten hatte: sein weichstes, flauschigstes Hemd aus der Savile Row und den dazu passenden Schlips, ein Einstecktuch, antike Manschettenknöpfe, die Arabella bei eBay gefunden hatte, den maßgeschneiderten Anzug, den er nach einem Bonus in Auftrag gegeben hatte, und die handgefertigten Schuhe. Und unter all dem versteckte er das aufreizendste Geheimnis von allen: seine ganz speziellen, glücksbringenden Seidenunterhosen, die Arabella von einem Einkaufstrip nach Antwerpen mitgebracht hatte. Diese ganze Selbstverzärtelung hatte paradoxerweise zur Folge, dass er sich in Sicherheit und gegen alle Unannehmlichkeiten gewappnet fühlte.
So gerüstet ging Roger am Freitag, dem 21. Dezember,
Weitere Kostenlose Bücher