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Kapital: Roman (German Edition)

Kapital: Roman (German Edition)

Titel: Kapital: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Lanchaster
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für ein nachdenkendes Volk« – Shahid mochte diesen Gedanken. Wer konnte da noch behaupten, der heilige Koran sei gegen die Wissenschaft eingestellt?
    Der Imam sagte etwas über Israel und den Westen und noch ein paar andere naheliegende Dinge über weltpolitische Themen, aber Shahid hörte nur halb zu. Er hatte das alles schon zu oft gehört,und es war schon längst nicht mehr der Grund, warum er in die Moschee kam. Dann war das Gebet vorbei, und die Gemeinde drängte sich auf die Straße hinaus. Das war Shahids zweitliebster Teil des Rituals: das bunte Durcheinander von Leuten, die sich anschließend miteinander unterhielten. Während des Gottesdienstes war es dunkel geworden, schließlich war heute der 21. Dezember, der kürzeste Tag des Jahres. Der Himmel war klar, und Shahid konnte gerade noch einen Stern oder vielleicht einen Planeten erkennen – er wusste nicht, was von beidem – und ein blinkendes Licht, das sich bewegte und demnach ein Flugzeug in großer Höhe sein musste.
    »Wie geht es deinem fetten Bruder?«, fragte Ali, der mit Ahmed zusammen zur Schule gegangen war. Damals war er ein ziemlich ruppiger, aber immer freundlicher Zeitgenosse gewesen, ein richtiger Leitwolf eben. Heute war er der Besitzer einer Kette von Elektrogeschäften mit Filialen in Croydon, Mitcham, Eltham und noch weiter entfernt liegenden Orten, und man erzählte sich, er sei steinreich. Vor Kurzem hatte er mit dem Rauchen aufgehört. Dafür gab es deutliche Anzeichen: Er war ganz weich und pummelig geworden, zappelte unentwegt herum, klimperte mit den Autoschlüsseln in seiner Hosentasche und schaute sich während des Redens andauernd in der Menge um.
    »Kein bisschen dünner geworden«, sagte Shahid. »Und deine Familie? Geht’s allen gut?«
    »Es ist schon wieder ein Baby unterwegs«, sagte Ali. »Ich habe das Rauchen gerade noch rechtzeitig aufgegeben.«
    Shahid schlug ihm auf die Schulter und wandte sich ein paar bekannten Gesichtern zu. »Wasim! Kamran! Ali hat schon wieder zugeschlagen! Nummer sieben ist unterwegs!«
    Die von Shahid gerufenen Männer kamen zu ihnen rüber und fingen an, Ali aufzuziehen, der das ganz offensichtlich genoss. Früher hatte Ali immer gewitzelt, dass er erst dann aufhören würde, wenn er genug Kinder zusammenhätte, um ein Fußballteam mit fünf gegen fünf aufzustellen. Aber das war ein paar Jahreher. War jetzt die Elf sein Ziel? Und wie sah Mrs Ali, die Shahid nie kennengelernt hatte, die Sache? Hatte sie in dieser Angelegenheit auch etwas zu sagen? Wenn man sieben Kinder hat, fragte sich Shahid, heißt das dann, dass man scharf auf Sex war, scharf auf seine Frau oder scharf darauf, Kinder zu haben? Oder war man einfach nur vollkommen unfähig zu verhüten? Oder trafen alle vier Punkte zu?
    »Entschuldigung«, sagte eine Stimme mit einem europäischen Akzent, »Shahid Kamal?«
    Shahid drehte sich um und stand einem nordafrikanisch aussehenden Mann mit einem gepflegten Bart gegenüber, dessen schmales Gesicht einen entschlossenen Ausdruck hatte und der ungefähr im selben Alter war wie er selbst. Er trug eine Lederjacke und Jeans und blickte ihn erwartungsvoll an.
    »Ja, das bin ich«, sagte Shahid.
    »Iqbal«, sagte der Mann und klang, als wollte er etwas verkaufen. »Iqbal Rashid. Von Brüssel nach Tschetschenien? Mit den Udeen-Brüdern? 1993?«
    Dann fiel es Shahid wieder ein: Dieser Mann war einer der Typen aus Belgien, mit denen er zu seinem großen Abenteuer aufgebrochen war. Shahid wäre um alles Geld der Welt nicht in der Lage gewesen, sich an seinen Namen zu erinnern, aber jetzt, wo er ihm gegenüberstand, fiel ihm alles wieder ein. Natürlich. Die beiden Belgier algerischer Abstammung, Iqbal und Tariq. Iqbal hatte, anders als Tariq, immer einen kühlen Kopf bewahrt, hatte aber auch gleichzeitig mehr Wut im Bauch gehabt. Er war sehr hip gewesen, damals, und ein leidenschaftlicher Fan von Rapmusik. Und er hatte sich die ganze Zeit fürchterlich aufgeregt über die Bedingungen, unter denen Muslime überall in der Welt zu leiden hatten. Aber das hatten sie alle getan. Sie hatten geredet und geredet, und weil sie ihren Worten auch Taten folgen lassen wollten, waren sie losgezogen, um für Tschetschenien zu kämpfen. Iqbal war genauso gewesen wie sie alle, nur dass seine Wut noch eine persönliche Note gehabt hatte. Und da stand er nun. Und während er ihnanschaute, hatte Shahid eine flüchtige Ahnung davon, wie sehr er selbst gealtert sein musste. Er erinnerte sich an diesen Typen als

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