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Kapital: Roman (German Edition)

Kapital: Roman (German Edition)

Titel: Kapital: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Lanchaster
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Stadt es in Wirklichkeit war. Es sah alles so gemütlich aus wie eine Dickens-Verfilmung im Fernsehen. Aber eigentlich war die Stadt kalt, und keiner scherte sich um den anderen. Quentina fand diese Weichzeichner-Illusion wesentlich sympathischer.
    Dann hatte sie ihr Ziel erreicht. Es war ein Reihenhaus, vor dem zahlreiche Mülltonnen standen – ein sicheres Zeichen dafür, dass es von vielen Parteien bewohnt wurde. Sie betätigte die dritte Klingel von unten, und der Türöffner wurde ohne ein Wort ausgelöst. Der Flur war eng und roch feucht. Auf einem kleinen Tisch neben der Eingangstür lag ein Stapel mit Post und Werbebroschüren. Jedes Mal, wenn sie hier war, lag ganz oben auf dem Stapel der Flyer einer Pizzeria. Die Engländer aßen ganz offensichtlich Unmengen von Pizza.
    Quentina sprang die Treppen bis zum ersten Absatz hoch, blieb einen Moment lang stehen, um wieder zu Atem zu kommen, und lief dann weiter in den zweiten Stock. Die Tür gegenüber der Treppe war nur angelehnt, also trat sie einfach ein. Von früheren Besuchen wusste sie, dass die Wohnung größer war, als es zunächst den Anschein hatte. Sie war L-förmig, hatte vorne ein Wohnzimmer und um die Ecke zwei Schlafzimmer und eine Küche. Im Wohnzimmer hingen ein paar Filmplakate. Eines zu dem Film Panzerkreuzer Potemkin – Quentina konnte kein Russisch lesen, aber sie hatte nachgefragt – und ein anderes zu Mandingo . Das sollte wahrscheinlich ein Witz sein. Der Tür gegenüber stand ein Schreibtisch mit einem Computer. Vor ihm saß ein großer afrikanischer Mann, hielt ein Handy an sein rechtes Ohr und machte mit der in die Luft gestreckten linken Hand eine Geste, die Quentina unmissverständlich aufforderte, keinen Mucks zu machen, solange er noch telefonierte.
    Es war bemerkenswert: Dieser Mann hatte eine der lautesten Stimmen, die Quentina kannte, und doch konnte sie, während sieam anderen Ende des Zimmers stand, kein einziges Wort von dem verstehen, was er sagte. Aber sie war froh darüber. Denn dieser Mann, der behauptete, Kwame Lyons, oder »Kwama Lyons« zu heißen – das war jedenfalls der Name, der auf ihren Gehaltsschecks stand –, löste in Quentina ein Gefühl aus, das sich in einem einzigen simplen Satz zusammenfassen ließ: Je weniger sie über ihn wusste, desto besser.
    Der Mann klappte sein Handy zu und drehte sich mit seinem Stuhl in ihre Richtung. Er war um die vierzig und hatte einen Adidas-Trainingsanzug an. Während er die Arme in einer herzlichen Geste ausbreitete, lächelte er mit dem Mund, aber nicht mit den Augen.
    »Wunderschön«, sagte er.
    »Ich habe Ihren Scheck«, sagte Quentina und hielt ihm das Stück Papier hin. Der Mann nickte, nahm den Scheck, las ihn sorgfältig durch, griff hinter sich nach seiner Brieftasche, öffnete sie und zählte 150 £ in Zehnpfundscheinen ab. Daraufhin zählte er das Geld noch einmal, und erst dann gab er es Quentina.
    »Es ist mir eine Freude, dieses Risiko für Sie einzugehen«, sagte er mit seiner vollen Baritonstimme.
    »Auch mir ist es eine Freude«, sagte Quentina, was eine glatte Lüge war. Aber dieser Dialog war zu einer Art Ritual zwischen ihnen geworden. Und gleichzeitig war er das Signal für sie, zu gehen.
    »Frohe Weihnachten«, sagte der Mann und wandte sich wieder seinem Computer zu.
    »Ihnen auch«, sagte Quentina. Sie ging aus dem Zimmer, schloss die Tür hinter sich und verließ die Wohnung wie jedes Mal mit einer Mischung aus Scham und Erleichterung. Es war ihr auch diesmal gelungen, mit keinerlei neuen Informationen konfrontiert zu werden oder sich in irgendeiner Weise weiter in die Sache zu verstricken, was ohne Frage positiv war. Sie rannte die Treppen hinunter nach draußen. Es waren kaum mehr als neunzig Sekunden vergangen, seit sie das Haus betreten hatte. Auch das war eine gute Sache.
    Quentinas Situation sah folgendermaßen aus: Im Sommer 2003 war sie in Harare von der Polizei verhaftet, verhört, verprügelt und wieder freigelassen worden. Auf dem Heimweg von der Polizeistation wurde sie von einem Schlägertrupp abgefangen und in ein Haus gefahren, wo man ihr mitgeteilt hatte, dass ihr genau zweiundsiebzig Stunden blieben, um das Land zu verlassen. Dann hatte man sie erneut verprügelt und schließlich am Straßenrand liegen lassen. Nachdem sie im Krankenhaus behandelt worden war, hatte eine Gruppe von Missionaren sie aus dem Land geschmuggelt. Sie war mit einem Studentenvisum nach England gekommen, hatte aber nie vorgehabt, nach Ablauf des Visums das

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