Kapital: Roman (German Edition)
in den Konferenzraum von Pinker Lloyd in Erwartung des Umschlags, der ihm mitteilen würde, wie hoch sein Bonus war. Die Spezialglaswände des Raums waren von transparent auf opak umgestellt worden, und man hatte das weiße Rauschen eingeschaltet, durchdas ein etwaiges Belauschen der Besprechung vollkommen unmöglich wurde. Während er das Zimmer betrat, fühlte sich Roger zuversichtlich, fit, gesund und bereit für alles, was da kommen mochte.
Max, der Vorsitzende des Vergütungsausschusses, befand sich bereits im Raum. Wenn rangniedere Angestellte ihren Bonus ausgehändigt bekamen, waren meistens mehrere Personen anwesend, für den Fall, dass jemand in einem schlechten Jahr die Fassung verlor. Das hieß aber gleichzeitig, dass auch in guten Jahren mehrere Leute da waren, damit die Anzahl der Personen im Raum nicht gleich verriet, wie hoch der Bonus war. Abteilungsleitern schenkte man da schon größeres Vertrauen, und daher wusste Roger, dass er mit nur einer Person sprechen würde. Und er hatte auch schon damit gerechnet, dass Max diese Person sein würde. Bei einer solchen Besprechung war es normalerweise nicht üblich, dass die direkten Vorgesetzten zugegen waren.
Max war einer dieser Männer, die durch ihre Brille definiert wurden. Weil sich Kontaktlinsen und Augenoperationen zur Korrektur von Sehfehlern immer weiter ausgebreitet hatten, war das Tragen einer Brille zu einer ganz bewussten Aussage geworden. Das galt nicht nur für ihre Form oder ihren Stil, sondern bereits für die Tatsache, dass man überhaupt eine im Gesicht hatte. Die Brille war ein Mittel, um zu zeigen, dass man über alle Eitelkeiten erhaben war (besonders beliebt bei Computernerds und einem bestimmten Schlag von Schauspielern und Musikern), um intelligenter auszusehen (beliebt bei abgehalfterten Models), um der intellektuellen Verachtung für jede Art von Verstellung Ausdruck zu verleihen, im Sinne von »Form folgt Funktion« (Architekten und Designer), oder als Anzeichen dafür, dass man nicht genug Geld hatte oder es einem einfach egal war, wie man aussah. Im Fall von Max war die Brille eine Art Verteidigungsmechanismus oder Tarnung. Sie diente dazu, sein Gesicht zu verstecken. Gleichzeitig sollte sie cool aussehen, aber diese Doppelfunktion glich einer Sieg-und-Platz-Wette, und wie so oft bei Sieg-und-Platz-Wettenging die Sache schief. Max’ Brille hatte ein dünnes Drahtgestell und sollte durch ihr technokratisches Design den Anschein von Persönlichkeit erwecken. Das misslang jedoch gründlich.
Als Roger noch ein kleineres Rad im Getriebe gewesen war, hätte er zu diesem Zeitpunkt bereits den Verlauf der Bonus-Besprechung vorhersagen können. Er hätte gemerkt, welche Art von Stimmung durch den Raum schwang, und hätte sich auf eine herbe Enttäuschung gefasst gemacht oder wäre über ein gutes Jahr in Verzückung geraten. Jetzt, da er Abteilungsleiter war, gab es keinerlei Warnzeichen. Es war sinnlos, die Körpersprache von Max deuten zu wollen; Max verdiente seinen Lebensunterhalt damit, die Leute mit seiner unbeweglichen Miene auflaufen zu lassen. Seine persönliche Form von Ausdruckslosigkeit wirkte wie ein »Lass uns lächeln und Freunde sein«. Auch wenn es eine wohlbekannte Tatsache war, dass nichts, was man in diesem Zimmer sagte, irgendeine Auswirkung auf die Summe hatte, die man erhielt, hinderte das einige Leute nicht daran, ihre Meinung zu sagen. Und es war ja auch gar nicht schlecht, dass sie auf diese Weise die Gelegenheit erhielten, bei jemand anderem als dem eigenen Boss Dampf abzulassen. Auch Rogers eigene Beurteilungen hatten eine direkte Auswirkung auf die Boni seiner Untergebenen, was sie sehr wohl wussten, und ein paar von ihnen würden nicht gerade begeistert sein, aber das war eben der Lauf der Dinge.
»Roger!«, sagte Max und wies auf den Sessel ihm gegenüber.
»Max«, sagte Roger. »Geht es Petra gut? Und Toby und Isabella?«
»Alles bestens«, sagte Max. »Arabella? Conrad?« – und dann gab es eine minimale Pause, während er versuchte, sich an den dritten Namen zu erinnern; was bedeutete, dass Roger diese Runde gewonnen hatte.
»Joshua?«
»Gesund und munter«, sagte Roger. »Sie wissen ja, wie sie an Weihnachten so sind. Sie können gar nicht genug Geschenke kriegenund haben ausgefallene Wünsche, die kein Mensch erfüllen kann. Und natürlich sind die Kinder auch ganz aufgeregt.«
Die beiden Männer tauschten ein verständnisvolles Lächeln. Max öffnete die Ledermappe, die vor ihm lag, und
Weitere Kostenlose Bücher