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Kapital: Roman (German Edition)

Kapital: Roman (German Edition)

Titel: Kapital: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Lanchaster
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gehen …«
    Max teilte ihm gerade mit, dass die Bank dieses Jahr mehrere Hundert Millionen Euro verloren hatte. Grund dafür war der Handel des Schweizer Tochterunternehmens mit hochspekulativen Subprime-Darlehen gewesen. Na toll. Halleluja. Roger hörte nicht mehr zu. Er wurde gerade so richtig in die Tonne gehauen, und da brauchte er die Details nicht zu wissen. Max redete noch eine Weile weiter, und dann kam der Moment, in dem er den Umschlag über den Tisch schob. Es war klar, dass sein Bonus absolut winzig sein würde, vielleicht sogar so gering wie sein Jahreseinkommen von 150000 £. Genauso gut hätte man ihn durch die Hintertür aus dem Büro schleifen können, um ihm dann mit einem Genickschuss den Rest zu geben.
    Roger öffnete den Umschlag. Er war zugeklebt, und einen Moment lang ärgerte er sich wahnsinnig über die Hohlköpfe, die diese Bank leiteten. Sie waren die Art Leute, die keine Ahnung davon hatten, dass es eine gesellschaftliche Konvention gab, derzufolge man persönlich überbrachte Briefe niemals zuklebte, weil das eine Beleidigung für diejenigen darstellte, die den Brief weiterleiteten. Unter Gentlemen konnte man zuverlässig davon ausgehen, dass eine private Korrespondenz von niemandemsonst gelesen wurde. So war es üblich. Aber diese neureichen Lackaffen hatten von so etwas nicht die leiseste Ahnung. Er zog das Stück Papier aus dem Umschlag. Sein Bonus für dieses Jahr war 30000 £.
    Er wusste, dass es keinen Zweck hatte, etwas zu sagen; dass es ihm nicht das Geringste nützen würde, zu husten und zu spucken, herumzustottern und zu protestieren. Er war selbst in der gleichen Situation gewesen wie sein Gegenüber, hatte auf der anderen Seite des Schreibtischs gestanden und wusste nur zu gut, wie sinnlos jede Beschwerde war, wie sinnlos es war, irgendetwas zu sagen oder zu tun. Und doch hörte er sich plötzlich hervorstoßen:
    »Aber … was … es ist nicht … mein Beitrag … Milliarden … absolut unfair … wenn ich bedenke, was ich alles getan habe … Grundgehalt … keine Frage von Gier, sondern von notwendigen …«
    Max saß einfach nur da, trug seine Brille und schwieg. Was hatte es schon für einen Zweck? Gar keinen. Roger verstummte. Das weiße Rauschen klang plötzlich ganz laut; dann wurde es still; und dann wurde es wieder lauter. Roger spürte, wie sich sein Magen verkrampfte und dann revoltierte, und dann hatte er ein ganz komisches Gefühl in der Speiseröhre, begleitet von einem Wogen, das sich anfühlte wie Übelkeit. Im nächsten Moment wurde ihm klar, dass es tatsächlich Übelkeit war. Ihm war sterbensschlecht. Ihm war nicht nur schlecht, nein, er merkte, dass er im Begriff war, sich zu übergeben. Roger erhob sich langsam zu einer gebückten Haltung und lehnte sich über den Tisch. Er nickte Max zu, drehte sich um und verließ den Raum. Womöglich waren auf dem Flur Leute, er sah sie nicht, und es war ihm auch egal. Die Toilette war zehn Schritte entfernt. Roger schaffte es gerade noch ins Innere einer der Zellen, und dann übergab er sich dreimal, so heftig, dass seine Bauchmuskeln schmerzten.
    Nachdem er fertig war, machte er den Klodeckel zu und blieb einfach, wo er war, bewegungslos am Boden kniend. War dasnicht wunderbar? War das nicht absolut perfekt? Es war komisch, wenn man mal über all die verschiedenen Gelegenheiten und Situationen in seinem Leben nachdachte, in denen er sich übergeben hatte. Summa summarum hatte er sicherlich mehrere Hundert Male gekotzt. Ja, dachte Roger. Ich habe schon hundert Mal gekotzt. Es gab ein ganzes Synonymwörterbuch, um das zu beschreiben. Die Fische füttern. Den Porzellanbus fahren. Reihern. Aber dieses Mal unterschied es sich von all den anderen Malen, bei denen er sich erbrochen hatte, denn bei all den anderen Gelegenheiten war es ihm, nachdem er sich einmal übergeben hatte, besser gegangen.

23
    Bis Heiligabend tauchten weitere DVDs in den Briefkästen der Häuser in der Pepys Road auf. Obwohl es irreführend ist, von DVDs im Plural zu sprechen, da es sich genauer gesagt überall um die gleiche DVD handelte. Auf die Hülle hatte man jeweils ein gedrucktes Etikett mit den Worten » W IR W OLLEN W AS I HR H ABT « geklebt, aber die DVD im Innern war unbeschriftet.
    Der Film war mit einer Handkamera aufgenommen worden und fing am südlichen Ende der Straße an, vor dem Geschäft der Kamals. Aus der Tatsache, dass es vollkommen still in der Straße war, aber trotzdem Tageslicht herrschte, konnte man erkennen, dass der

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