Kapital: Roman (German Edition)
Film sehr früh am Morgen und an einem Sommertag gedreht worden sein musste. Ab und zu blendete die tiefstehende Morgensonne die Kamera, und das Bild wurde weiß.
Von einem technischen Standpunkt aus gesehen war der Film eine völlige Katastrophe. Die Kameraführung war holprig und das Bild häufig unscharf. Auch die Farben waren ganz verschwommen. Das Ganze wirkte wie ein Film aus der Frühzeit des Genres, als man das Filmen eigentlich noch gar nicht richtig erfunden hatte. Wer auch immer die Kamera gehalten hatte, war andauernd von einer Straßenseite auf die andere gewechselt. Die wackligen Bilder, die ständige Positionsveränderung und die schlechte Qualität des Digitalfilms bewirkten, dass man beim Zusehen leicht seekrank wurde. Manchmal war die Person mit der Kamera an ein bestimmtes Haus näher herangetreten; er (obwohl es natürlich keinen Grund gab, davon auszugehen, dass es sich um einen Mann handelte) war zum Beispiel ganz dicht an Petunia Howes Eingangstür getreten und hatte den Fokus auf die Hausnummer gestellt. Des Öfteren schien er auch mitten auf der Straße zu stehen, um von dort aus die Kamera von einer Seite auf die andere zuschwenken, wie zum Beispiel, als er vor der Nummer 27 stand, dem Haus, das Mickey Lipton-Miller gehörte. Oder er zoomte an ein Auto heran und filmte durch die Windschutzscheibe, wie ein Dieb auf der Suche nach Navigationsgeräten, die es sich zu stehlen lohnte. Mit besonderer Lüsternheit hielt er sich bei dem Lexus S400 der Younts auf. Es hatte ganz den Anschein, als wollte die Kamera ins Innere des Wagens kriechen und ihre Hände über die Ledersitze gleiten lassen. Manchmal schienen auch architektonische Details das gesteigerte Interesse der Kamera zu wecken. Keine zwei Häuser in der Straße waren identisch; also schaute sich die Kamera die Verfugung des Mauerwerks von Nummer 36 näher an, um sie dann mit der Verfugung von Nummer 46 fünf Häuser weiter zu vergleichen, die auf kaum noch erkennbare Weise anders war. Oder sie zeigte das Erkerfenster in Nummer 62 und dann ein anderes Erkerfenster in Nummer 55, das im Gegensatz zu dem von Nummer 62 eine polygonale Form hatte. Besonderes Interesse zeigte die Kamera an den großen, teuren Doppelgrundstücken.
Obwohl der Inhalt der DVD an sich nicht bedrohlich war, hatte er doch einen bedrohlichen Effekt – es war irgendwie unheimlich, dass jemand die Straße beobachtet und so genau unter die Lupe genommen hatte. Man konnte das Ganze unmöglich für die Aktion eines Maklers oder für virales Marketing halten. Und darüber hinaus hatte der Film etwas sehr Sehnsüchtiges an sich. Man kam sich ganz so vor, als würde man einem Kind zusehen, das vor dem Schaufenster eines Spielzeugladens stand. Nicht alle Anwohner schauten sich die DVD an, aber bei denjenigen, die es taten, blieb der Eindruck zurück, dass es da draußen tatsächlich jemanden gab, der wollte, was sie hatten.
Die DVDs waren in gepolsterten Umschlägen verschickt worden. Die Poststempel auf den Umschlägen stammten aus allen Stadtteilen Londons.
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Quentina war keine fromme Christin, genauso wenig wie sie noch an den Marxismus glaubte, aber sie ging gerne in die Kirche. Sie mochte die Sprache und dieses kostbare Gefühl von Wärme, sie mochte den Vikar aus Simbabwe, der in der afrikanisch-anglikanischen Kirche St Michael’s tätig war, in die sie ging, und vor allem mochte sie den Leiter des dortigen Chors. Er hieß Mashinko Wilson, stammte aus Botswana, war herrlich muskulös und – wie sie herausgefunden hatte – wissenschaftlicher Assistent an der Uni. Er hatte eine rauchige, geradezu erotische Stimme, die wie geschaffen war für das Singen von Kirchenliedern. Wenn er afrikanische Lieder sang oder auch solche, die einen afrikanischen Einfluss hatten, war die Wirkung seiner Stimme nicht so eindrucksvoll, aber an Weihnachten, wenn er den Chor und die Gemeinde beim Singen der englischen Weihnachtslieder anführte, hatte sie etwas absolut Hypnotisierendes. Wenn er »O Come All Ye Faithful« mit dieser warmen, klaren und sinnlichen Stimme intonierte, die ihre Kraft so offensichtlich aus seinem gesunden, muskulösen Körper zog, dann war es eine reine Freude zuzuhören. Quentina hatte den Mashinko-Weihnachtslieder-Effekt im letzten Jahr entdeckt, eine Woche vor Weihnachten, und seitdem hatte sie sich schon das ganze Jahr darauf gefreut. Die Adventszeit und jetzt auch Heiligabend hatten ihre Erwartungen mehr als erfüllt. Heute, nach der Messe, würde sie zu
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