Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Kaputt in El Paso

Kaputt in El Paso

Titel: Kaputt in El Paso Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rick DeMarinis , Frank Nowatzki , Angelika Müller
Vom Netzwerk:
bösartiger Tumor in der rechten Gehirnhälfte. Sie denken, dass Bestrahlungen helfen könnten. Aber dafür müsste er sofort ins Krankenhaus, nicht erst in einem Monat.«
    Ich nahm Maggie die Pantoffeln aus der Hand und ging voran. Ein vom Wrasen verschmierter Globus an der Decke diente als Beleuchtung für die fensterlose Küche. Er spendete gerade mal genügend Licht, damit man sich die Gabel nicht ins Auge stieß; wollte man hingegen Zeitung lesen, hätte man eine Grubenlampe gebraucht.
    Auf der Resopal-Platte des langen Tisches, an dem wir sieben immer unsere Mahlzeiten eingenommen hatten, stand eine Flasche Wein. Vor Sam stand ein Glas, ein zweites Glas stand ihm gegenüber, auf der anderen Seite des Tisches. Beide waren gefüllt, doch weder Sam noch Jesus tranken. Es waren Maggies beste Gläser, die aus Kristall, und der Wein diente lediglich der Zeremonie.
    »Hi, Daddy«, sagte Zipporah. »Was machst du da?«
    Sam Walkinghorse sah immer noch eindrucksvoll genug aus, um selbst ein biblischer Charakter zu sein oder ein Ehrfurcht gebietender Sioux. Er sah Zipporah finster an und schwieg. Er war groß und hager und obwohl Sam krank war, hatte sein strenger Blick die Macht, jeden Widerspruch im Keim zu ersticken.
    Er hatte viel Gewicht verloren. Unter seinem zerschlissenen Bademantel zeichneten sich die Knochen ab. Sein weißes Haar war seit Wochen nicht mehr geschnitten worden und seine buschigen Augenbrauen sahen aus wie Grasbüschel, die sich an die knochigen Klippen über seinen eingesunkenen Augen klammerten.
    »Meine Kinder«, sagte er und stellte uns seiner Halluzination vor. »Sie sind alle von unterschiedlicher Rasse.«
    Ob ich wollte oder nicht, ich wartete darauf, ob sich auf der anderen Seite des Tisches etwas tat. »Hier sind die Hausschuhe, Pa.«
    »Stell sie da unter den Stuhl«, sagte er und zeigte über den Tisch. »Die Füße des Sohn Gottes sind noch immer kalt und bluten.«
    »Wir bringen dich ins Providence Memorial.«
    »Ich habe hier alles, was ich brauche, Zipporah«, sagte er. »Ich muss nirgendwohin gehen.«
    Zipporah ließ nicht locker: »Du hast einen Gehirntumor von der Größe einer Walnuss, Daddy.«
    »Ich weiß, was ich habe. Ich bin kein Narr.«
    »Wenn du dich nicht behandeln lässt, wirst du sterben«, erklärte Zipporah.
    »Wir alle schulden Gott einen Tod«, sagte er. »Seit Iwo Jima lebe ich mit geborgter Zeit. Ich bin zweiundachtzig Jahre alt. Wie viel Zeit braucht ein Mensch?«
    Ich versuchte es mit einer anderen Taktik: »Du bist verdammt selbstsüchtig, Pa. Denk an uns, denk an Mutter.«
    Er warf mir einen Blick zu, als wäre ich nicht sein Sohn, sondern ein unerwünschter Eindringling.
    »Die Türen sind offen für mich«, sagte er. »Sie wurden weit aufgestoßen. Ich kann Ihn sehen und weil ich Ihn sehe, sehe ich auch die Wiese des Himmels. Du kannst es Tumor nennen, wenn du möchtest, aber es ist ein Geschenk, keine Krankheit. Wenn du nur sehen könntest, was ich sehe.«
    »Wie auch immer, Daddy, du wirst ins Krankenhaus gehen«, sagte Zipporah. Sie wirkte ungeheuer bestimmt.
    Der alte Mann schüttelte traurig den Kopf. »Siehst du«, sagte er zu dem leeren Stuhl, »da nimmt man unerwünschte Kinder bei sich auf, rettet sie aus einer ausweglosen Situation und dann wollen sie Dir die Tür weisen. Sie behandeln Dich wie ein Symptom, das man beseitigen muss. Aber achte nicht auf sie. Bevor wir unterbrochen wurden, Herr, warst Du gerade dabei, mir zu sagen, weshalb Deine Wunden in den zweitausend Jahren nicht heilen konnten.«
    Beinahe erwartungsvoll blickten Zipporah und ich hinüber zu dem leeren Stuhl.
    »Ich geh mal kurz raus«, flüsterte ich Zipporah zu.
    Ich ging zurück ins Vorderzimmer. Maggie saß auf der Couch. Der Fernseher lief, doch sie sah nicht hin. Ich setzte mich neben sie. Es war Jeopardy!-Zeit. Ich schnappte mir die Fernbedienung und schaltete auf Channel 4.
    »Hast du Jesus die Hausschuhe gebracht, mein Junge?«, fragte sie.
    »Da drinnen ist kein Jesus, Mom.« Ich legte meinen Arm um sie. Außenseiter hin oder her, ich liebe sie, sie ist die netteste Person, die ich kenne.
    Sie sah mich fassungslos an. »Das weiß ich doch«, sagte sie. »Natürlich sitzt Jesus nicht in unserer Küche.«
    »Das klingt aber nicht sehr überzeugt.«
    »Nein, nein. Ich weiß, dass es der Tumor in seinem Kopf ist. Darum redet er die ganze Zeit von Jesus und den Wiesen des Himmels. Ich weiß das.« Es war ganz offensichtlich, dass sie gegen Sams Überzeugungskraft

Weitere Kostenlose Bücher