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Kaputt in El Paso

Kaputt in El Paso

Titel: Kaputt in El Paso Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rick DeMarinis , Frank Nowatzki , Angelika Müller
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metallischen Nachgeschmack. Was die innere Verfassung betrifft, kommt Hoffnung dem Genuss des eigenen Gallensaftes gleich.
    Zwischen Feuchtigkeitslotionen, Rougetöpfchen, Abdeckstiften, diversen Cremes und Ölen fand ich ein Röhrchen Seconal – Gert hatte sie immer als rote Teufel bezeichnet. Entweder war das Röhrchen von den Schnüfflern übersehen worden oder sie standen nicht auf reine Arzneimittel. Bayer, Pfizer, La Roche hatten auf dem Gebiet der Gehirnerweichung nichts zu bieten, was einem Lösemittel zu fünfzehn Dollar die Gallone ernsthaft Konkurrenz machen könnte. Ich nahm ein Handtuch vom Regal, ein neues Stück Seife und machte mich aus dem Staub.
    Zwei Türen weiter verschaffte ich mir Zutritt zu einem leer stehenden Apartment. Ich zog die Sachen der Toten aus, warf zwei rote Teufel ein und duschte ausgiebig, und zwar heiß genug, um den Tod aus meiner Haut zu kochen. Anschließend legte ich mich auf die nackte Matratze, den Kopf auf einem nicht bezogenen Kissen.
    Als ich meine Augen schloss, sah ich Rigobertos Ohren, das Messer in der Hand des pochos, mit dem er die Ohren dicht am Schädel abtrennte; durch mein Sichtfeld bewegten sich die von Fliegenschwärmen belagerten Leichen wie Lichtreflexe auf einem Fluss. Und über allem schwebte das Gesicht Jesús Malverdes, des Schutzheiligen der Drogenhändler, Augen aus dem 19. Jahrhundert mit einem traurigen Ausdruck, als könne er die Zukunft Mexikos sehen.
    Dann schlugen die roten Teufel zu. Sie öffneten eine Tür, hinter der ein still ruhender, schwarzer See lag. Ich fiel hinein.
    Clara Howler hatte mich bei den Ohren gepackt und drehte meinen Kopf nach links, dann nach rechts, um meine Hilflosigkeit zu unterstreichen. Vom Hals abwärts war ich gelähmt. »Du bist zu neunzig Prozent tot«, sagte sie. Dann setzte sie sich auf meine Brust und schnitt mir mit einem Jagdmesser die Ohren ab. Sie hielt sie in die Höhe, ließ sie vor meinen Augen tanzen. Sie waren blutleer, wächsern. »Siehst du«, sagte sie. »Nichts Besonderes. Es ist nur Fleisch. Wir sind alle nur Fleisch, carnal, nichts weiter.« Sie zog ihren Rock hoch und hockte sich auf mein Gesicht. Ich hatte das Gefühl, unter dem Druck ihrer feuchtwarmen Dschungelhitze tiefer und tiefer zu sinken. Ich wollte schreien, bekam aber nicht genug Luft in die Lungen. Sie erstickte mich mit ihrem Körper. Dann rannte ich, rannte durch tiefen Sand, hinter mir aufgeregte Stimmen, die Stimmen der Toten, die darum bettelten, ihre Leichen zu begraben, bevor es zu spät war. Wofür zu spät?, schrie ich. Beeil dich, riefen sie, beeil dich.
    Ich saß aufrecht auf der Matratze, mit galoppierendem Herzen, die Frage Wofür zu spät? auf den Lippen. Es war Morgen – doch welcher Tag? Es kam mir so vor, als hätte ich eine Woche geschlafen, aber ich fühlte mich überhaupt nicht ausgeruht, mein Schädel war voller Sägemehl. Ich rollte mich von der Matratze und kroch ins Badezimmer, kletterte in die Dusche und drehte das kalte Wasser auf. Dort blieb ich hocken, bis mein Herz wieder langsamer schlug. Ich konnte wieder klar denken. Inzwischen war ich derart ausgekühlt, dass mir der Sinn nach etwas Warmem stand, meine Panik hatte dem Bedürfnis nach körperlichem Wohlbehagen weichen müssen.
    Ich ging zurück in mein Apartment und räumte auf. Anschließend machte ich mir einen starken Kaffee, setzte mich an den Tisch und blickte hinunter auf den Parkplatz. Ich war dankbar, am Leben zu sein, gleichzeitig fragte ich mich, wie lange dieser Zustand noch andauern werde.
    Was war mein Leben schon wert, allgemein betrachtet? Nicht viel, aber es war das Wichtigste, was ich besaß. Ich glaubte immer noch an meine Zukunft – eine vage, kaum greifbare Zukunft, aber immerhin eine Zukunft. Vielleicht würde ich doch noch meinen Magister machen. Vielleicht würde ich für eine dieser viel versprechenden High-Tech-Firmen arbeiten, die mit den Vorzugsaktien für ihre Mitarbeiter so generös umgingen, dass man sich als Millionär zur Ruhe setzen konnte. Vielleicht würde ich eine nette Frau kennen lernen und heiraten. Vielleicht ein rechtschaffenes MittelklasseLeben führen: trautes Heim, Glück allein in einem grünen Vorort, befriedet durch das ständige Vorbeizischen der Familienkutschen, die breite, von Bäumen gesäumte Straßen entlangfuhren.
    Je mehr solcher Bilder ich mir ausmalte, desto mehr gerieten sie zu Karikaturen. Wem wollte ich hier eigentlich Sand in die Augen streuen? Ich würde nirgendwohin gehen. Ich musste

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