Karambolage
selbst und an dem vorbeizuschauen unweigerlich zu Genickstarre führte. Wenn man jedoch ein Mädchen mithatte, spielte das alles keine Rolle. Sie war ganz nah, und man konnte in der Dunkelheit viel mit ihr anstellen. Er erinnerte sich auch an Augenblicke, wo es auf der Leinwand plötzlich finster wurde, weil der Film gerissen war. Niemand vermochte dann zu sagen, wann die Vorstellung weitergehen würde, denn der Operateur hatte die verruchte Gewohnheit, zwischen zwei Filmrollen auf ein Glas Bier zu gehen. Irgendwie wurde er aber doch noch von irgendwo hergezaubert, und alles fand ein gutes Ende.
Ein Kino hatte eben Atmosphäre gehabt. Im Foyer hatten sich selbst an einem Freitag am frühen Nachmittag mitunter mehr Leute getroffen als sonntags nach der Kirche – wenn man Leopolds Erinnerungen Glauben schenken durfte. Ließ man hingegen hier seinen Blick durch die Runde schweifen … Einfach gar nichts war los. Das Pärchen in der Ecke machte nicht einmal den Ansatz zu einer Knutscherei. Sicherlich, man wurde mit der neuesten Technik verwöhnt, mit gepolsterten Sitzen, genügend Platz und optimaler Sicht. Dennoch blieb Leopold dabei: Diese neuen Kinozentren waren einfach keine Kinos mehr.
Leopold zog ein Foto aus der Innentasche seines Mantels, das er in der Bezirkszeitung gefunden hatte und auf dem Fellner zusammen mit einigen anderen Billardspielern quasi zur Vorankündigung des Turniers abgebildet war. Das Foto hatte auch schon einige Jahre auf dem Buckel, Fellner war darauf allerdings noch gut zu erkennen. Für den heutigen Zweck musste es reichen.
Ein wenig unsicher schritt Leopold auf eine der beiden geöffneten Kassen zu, in der eine Enddreißigerin mit Brille und kurzen, schwarzgelockten Haaren saß. Der Ort war ihm noch immer nicht geheuer. »Keine Angst, junger Mann«, sagte die Dame. »Der nächste Film ist jugendfrei.«
Leopold machte eine beschwichtigende Geste. »Verzeihen Sie, ich bin nicht gekommen, um mir eine Karte zu kaufen«, sagte er. »Ich bräuchte eine Auskunft. Waren Sie vorgestern Abend hier?«
»Ja, warum?«
»Können Sie mir sagen, ob dieser Herr« – er zeigte auf das Foto – »in der Vorstellung um 20 Uhr war? Der Film heißt ›Morgen ist Dienstag‹, glaube ich.«
»Warum wollen Sie denn das wissen? Sind Sie von der Polizei oder sonst ein Schnüffler?«
»Na ja, eigentlich bin ich privat da. Der Herr ist nämlich gestern Abend plötzlich verstorben, und über seine letzten Stunden ist uns wenig bekannt. Es sind einige Gerüchte im Umlauf, deshalb würde ich gerne wissen, ob er sich diesen Film angesehen hat, und ob allein oder in Begleitung.«
»Männlich oder weiblich?«, kam es spontan von der Dame in der Kassa.
»Ich tippe stark auf weiblich.«
»Also, wenn ich ehrlich bin, kann ich mich nicht an den Herrn erinnern, aber am Abend sind ja auch mehr Kassen geöffnet. Mit einer Tussi, sagen Sie? Sind Sie sich da sicher?«
»Ziemlich. Warum?«
Jetzt kam der Dame erstmals ein Lächeln aus. »Haben Sie denn noch nichts von dem Film gehört, junger Mann? Na, dann erzähle ich Ihnen ein bisschen was, es ist jetzt ohnehin kaum etwas los. Es geht um eine junge Frau, die mit einer anderen jungen Frau in einer Beziehung lebt, aus der sie aber irgendwie aussteigen will.«
»Sie meinen eine lesbische Beziehung?«
»Die Männer nennen es gerne so. Ich würde sagen, die beiden Frauen mögen einander eben sehr. Da lernt sie – Pat heißt sie, glaube ich – John, einen jungen Mann, kennen. Der lebt aber in einer Beziehung mit seinem Universitätsprofessor.«
»Die beiden mögen sich wohl auch sehr?«, fragte Leopold interessiert.
»Stimmt! Aber Pat und John verlieben sich ineinander, und das verkompliziert die Sache. Sie wissen nicht, wie sie mit ihren neuen Neigungen umgehen sollen, dazu kommen Eifersucht und Intrigen der Partner, also ein ziemliches Chaos. Jeder fragt sich: Kommen Pat und John zusammen? Und jetzt kommen wir zum entscheidenden Abschnitt. Pat ist der festen Überzeugung, dass alle wichtigen Entscheidungen in ihrem Leben an einem Dienstag fallen. Am Montag sieht es so aus, als sei ihre Beziehung zu John endgültig gestorben, aber …«
»Aber es kommt ja der Dienstag.« Leopold konnte dem Ganzen noch folgen.
»Eben. Sie haben’s erraten, junger Mann. Am Dienstag wendet sich das Blatt noch einmal. Happy End für Pat und John, aber nicht für alle. Haben Sie nicht gelesen, dass es Proteste lesbischer Vereinigungen gegen das Ende des Films gab?«
»Sie meinen,
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