Karambolage
gealtert, träge und mutlos.
Irgendwann würde auch der letzte schwache Lebenswille verpufft sein. Dann hieß es Abschied nehmen, Abschied von jemandem, den zu sehen eine Zeit lang so selbstverständlich gewesen war. Leopold nahm ungern Abschied. Aber er fürchtete, dass es bei Erwin Seidl bald so weit sein würde.
9
Langsam, unerträglich langsam ging es über die Straße und dann ins Haus hinein. In ein Haus ohne Lift.
Leopold konzentrierte sich darauf, Seidl zu stützen und zu einem etwas flotteren Tempo aufzumuntern. Doch der schleppte sich nur Stufe für Stufe hinauf. Dabei keuchte er bedenklich. Im zweiten Halbstock blieb er stehen und rang nach Atem.
»Eduard ist kein schlechter Junge«, sagte er mit einiger Anstrengung. »Er … er geht nur zurzeit gar keiner festen Arbeit nach, Leopold. Ich habe mich geniert, es zu sagen, du musst mir verzeihen. Wie weit kann das einen Menschen verändern? Kann es ihn zu einer bösen Tat fähig machen?«
Leopold schüttelte den Kopf. »Gleich sind wir oben, Erwin«, versuchte er, ihn zu beruhigen. »Dort können wir dann über alles reden.«
Seidl arbeitete sich weiter empor. Noch während Leopold überlegte, warum er jetzt wieder seinen Sohn Eduard ins Spiel brachte, kitzelte ihn etwas in der Nase. Es war ein Geruch, der nicht hierher gehörte. Ein gefährlicher Geruch. Woher kam er?
»Gib mir den Schlüssel, Erwin, schnell«, sagte er. Es war eine furchtbare Ahnung, nicht mehr. Noch ehe der verdutzte Seidl die Situation erfasste, war Leopold schon hinaufgelaufen und öffnete hastig die Tür. Heftiger Gasgeruch strömte ihm entgegen.
»Dreh ja kein Licht auf, sonst fliegen wir hier alle in die Luft«, rief er Seidl zu. Dann rannte er mit angehaltenem Atem in die Küche, schaltete den Gasherd aus und öffnete das Fenster. Er atmete tief durch. Hinter ihm, vor dem Herd mit dem geöffneten Backrohr, lag Eduard Seidl. Man musste nachsehen, ob er noch lebte.
Leopold fühlte den Puls, prüfte, ob Eduard noch atmete, öffnete ein Auge. Da war nichts mehr zu machen. Er musste jetzt nur Erwin Seidl die ganze Sache irgendwie schonend erklären.
Der kam, während Leopold sämtliche anderen Fenster in der Wohnung aufriss, ziemlich außer Atem herein. Er blieb stehen, hielt sich am Türrahmen fest, stutzte. Leopold brauchte nichts mehr zu sagen. Seidl wusste alles. Langsam bewegte er sich weiter, ging vorbei an der Küche, ohne einen Blick hineinzuwerfen. Er hustete nur kurz und heftig. Dann ließ er sich mit einem leisen Schluchzen auf die Couch im Wohnzimmer fallen.
»Jetzt hast du es doch getan«, sagte er zu sich. »Dabei hätte ich nichts verraten. Keiner Menschenseele hätte ich etwas erzählt. Man legt doch nicht Hand an sich, Eduard.«
Leopold setzte sich zu ihm. »Du glaubst, es war Selbstmord?«, fragte er leise.
»Was denn sonst?« Langsam füllten sich Seidls trübe Augen mit Tränen.
»Aber warum hätte er es tun sollen, Erwin?«
Seidl seufzte. Eine Träne kullerte seine Wange hinunter. »Ich muss dir wohl die Wahrheit sagen, Leopold. Dann wirst du auch verstehen, warum ich vorhin im Stiegenhaus so geredet habe«, sagte er mit schwacher Stimme. Sein Atem ging jetzt regelmäßig. Er schien unendlich traurig zu sein.
»Schon die ganze Zeit schleppe ich die Frage mit mir herum, was oder besser wen ich damals in der Nacht gesehen habe«, sagte er. »Es sind nur Umrisse, Leopold, Umrisse und Schatten, die man erkennt, sonst nichts. Dennoch … fragt man sich. Die Gestalt ist zielstrebig auf unser Haus zugelaufen, geradewegs Richtung Eingangstür. Da muss man doch annehmen … dass sie auch hereingekommen ist, oder?«
»Du vermutest, dass es Eduard war? Du hältst deinen Sohn für einen Mörder?«
»Ich bekomme es einfach nicht aus meinem Kopf heraus. Es passt doch alles zusammen. Eduard hat Fellner gehasst. Er hat ihn vors Auto gestoßen, ist ins Haus gelaufen, dort einige Zeit untergetaucht – dann so, als ob nichts geschehen wäre, in die Wohnung gekommen. Er war verändert in den letzten Tagen, noch weniger zugänglich als sonst. Der Inspektor behauptet, dass mit seinem Alibi etwas nicht stimmt. Und jetzt …«
»Aber du hast doch gesagt, dass er heute gut drauf war. Warum hätte er sich auf einmal unter den Gasherd legen sollen?«
»Vielleicht hat er das alles nur vorgetäuscht, um mich aus dem Haus zu haben, wenn er sich umbringt«, meinte Erwin Seidl nachdenklich. Er fuhr sich durchs Haar. Seine Hand zitterte mehr als gewöhnlich. »Glaubst du,
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