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Karaoke

Titel: Karaoke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kaminer Wladimir
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belgischer Tourist in kurzer Hose mit einer Videokamera in der Hand tanzten auf den Tischen. Swetlana trank mehrere Flaschen Champagner und jammerte, dass sie bereits um halb acht am Savignyplatz arbeiten müsse, blieb aber trotzdem bis zum Schluss. Unsere Befürchtung, dass die Veranstaltung nie zu Ende gehen würde und wir für immer in einer Zeitschleife namens »Russendisko« steckten, erwies sich zum Glück als falsch. Pünktlich um sechs Uhr fiel der letzte Gast hinter das Klavier, und es wurde still im Burger. Als wir den Betrunkenen hinter dem Klavier hervorzogen, fanden wir dort viele nützliche Dinge: unter anderem einen gelben Regenschirm, den Fotoapparat der erotischen Schriftstellerin, die leider bereits weggegangen war, und eine Schallplatte der sowjetischen Gruppe Erdlinge aus dem Jahr 1978, die aber sofort wieder verloren ging.
     
    Deutsch-russisches Kulturjahr
     
    Spätestens im Sommer bemerkten wir, dass irgendetwas bei unseren Tanzveranstaltungen nicht mehr stimmte. Plötzlich kamen haufenweise Journalisten in die Russendisko, und jedes Mal wurden es mehr. Alle wollten sie von uns wissen, ob wir schon von dem deutsch-russischen Kulturjahr gehört hätten und was wir davon hielten. In den Zeitungen konnte man nachlesen, dieses Kulturjahr sei das größte kulturelle Ereignis zwischen den beiden Ländern seit Stalingrad. Wir gaben uns ganz bescheiden. »Hier bei uns ist jeden Tag deutsch-russisches Kulturjahr«, sagten wir. »Glauben Sie denn etwa immer noch, was Ihre Zeitungen schreiben? Früher in der Sowjetunion hatten wir jedes Jahr irgendein Kulturjahr, über das die Zeitungen schrieben: ein nordkoreanisches, ein kubanisches — aber das kümmerte keinen.« Die Berliner Journalisten waren jedoch wie besessen von diesem einen Kulturjahr. Die gesamte Medienlandschaft floss zu uns: Freiheit und Sport, Echo der Frau, Essen und Trinken und RTL-Plus. Sie kamen zu zweit oder zu dritt, manchmal sogar zu fünft, winkten mit ihren Journalistenausweisen und erzählten an der Kasse, dass sie überhaupt nicht freiwillig, sondern im Auftrag ihrer Redaktionen unterwegs seien und nur ganz kurz ihren Beitrag zum Thema Völkerverständigung leisten wollten, danach würden sie sofort weiterziehen. Manche Journalisten hatten große Rucksäcke mit Dosenbier dabei, die meisten verschwanden im Getümmel und tauchten nicht wieder auf. Und jedes Mal, wenn unser Türsteher jemanden heraustragen wollte, ging ein Geschrei los: »Hände weg! Ich bin vom Offenen Kanal!«
    Unvergesslich war uns ein Journalistenpärchen: sie groß und rothaarig, er glatzköpfig und schief in der Tür wackelnd, mit einem zerfledderten Fotoapparat um den Hals. Der Türsteher baute sich vor der Glatze auf.
    »Das ist ein sehr bekannter Fotograf, der schon seit Januar zum russisch-deutschen Kulturjahr recherchiert und deswegen etwas müde aus
    sieht, aber absolut nüchtern ist!«, verteidigte die Rothaarige ihren Kollegen.
    Der bekannte Fotograf bekräftigte ihre Aussage, indem er in der Tür hin- und herschaukelte, ein geringschätziges Grinsen simulierte und dem Türsteher mehrmals den Stinkefinger zeigte.
    »Du kannst mir erzählen, dass er nett ist«, sagte unser Türsteher, »du kannst mir erzählen, dass er ruhig ist, gut erzogen und dass du auf ihn aufpasst, aber erzähl mir nicht, er ist nüchtern!« Der Fotograf wurde schließlich reingelassen, er musste jedoch seinen Apparat als Pfand hinterlassen.
    Trotz der komplizierten Arbeitsbedingungen hatten einige Journalisten es aber anscheinend doch geschafft, bei uns zu knipsen und zu recherchieren. »Seit der Russendisko sind Balalaika, Wodka und Russenmafia nicht mehr unsere einzigen Assoziationen zu dem großen Nachbarn«, lobten uns mehrere Zeitungen. Zwischendurch kamen auch immer wieder russische Kollegen von solch bekannten Moskauer Zeitschriften wie Mafia aktuell, Balalaika heute und Wodka essen und trinken. Anstelle von Journalistenausweisen zeigten sie ihre Kugelschreiber und Notizbücher. Der eine erzählte unserem Türsteher, dass ihn die so genannte menschliche Kultur eigentlich gar nicht als Thema anspreche und dass er viel lieber über Tiere und Vögel schreiben würde. Er gestikulierte und mischte ununterbrochen deutsche Wörter mit englischen. Jahrelang habe er in den kaukasischen Bergen eagles beobachtet, die dort ein völlig freies Leben in der freien Natur fuhren und manchmal sogar noch nachts mittelgroße Lämmer aus der Luft angreifen würden, versuchte er unseren

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