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Karaoke

Titel: Karaoke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kaminer Wladimir
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ging oft und gerne ins Kino. In dem Film hing Morrison, um seine Todesverachtung zu demonstrieren, über einem Balkon. Halb Charkow machte es ihm nach. Besonders an Feiertagen konnte man an jedem zweiten Balkon einen hängenden Jungen erkennen. Einige fielen herunter, die meisten aber überlebten. Auch Jurij hängte sich mehrmals nach dem vierten Bier aus seinem Balkon im vierten Stock. Danach brach er mitsamt seiner Familie durch, zur anderen Seite, nach Deutschland. In Berlin haben wir uns dann kennen gelernt. Deswegen wollte ich, dass wir zusammen in die Kneipe Seelenküche gehen, um dort nachträglich zu Ehren von Jim Morrison ein Lied zu singen.
    Die Kneipe befand sich am Arsch der Welt, am Königsheideweg, in der Nähe der Kleingartenkolonie Südpol. Sie war winzig wie eine Sauna. Die Wände waren mit Fotos, Plakaten und klugen Sprüchen von Jim Morrison dekoriert. Einige Männer mit und ohne Zöpfe sowie auch einige Frauen mit und ohne Kleinkinder saßen an den Tischen. Alle tranken Bier. Die beiden Betreiber standen hinter dem Tresen und schimpften als Erstes über den Artikel aus dem Tagesspiegel über sie: Nie
    im Leben wären sie auf die blöde Idee gekommen, das Grabmal von Morrison im Maßstab eins zu eins in Treptow nachzubauen.
    »Wir wollten nur ein ganz kleines Grabmal anfertigen lassen und es hier irgendwo auf dem Fensterbrett aufstellen«, meinte einer der beiden.
    »Die Journalisten schreiben doch immer, was sie wollen«, ergänzte der andere.
    In der Kneipe herrschte eine fröhlich-familiäre Atmosphäre. Es gab Berliner Pilsner vom Fass und selbst gemachte Erbsensuppe — und zwar ausschließlich. Alles wirkte so vertraut wie in einer proletarischen Beize, nur dass eben statt Pokalen und Dart-Spiel Jim Morrison an den Wänden hing. Er war in seinen letzten Jahren richtig dick geworden und sah gar nicht mehr so romantisch wie im Film aus. Mit einem Bier in der Hand hätte er einen echten Berliner aus Treptow abgeben können. Ich erzählte den Betreibern, dass auch bei uns in der Sowjetunion die Poesie von Jim Morrison tiefe Spuren hinterlassen und viele Schicksale beeinflusst hätte.
    »Dat is ja 'n Ding«, wunderten sich die beiden Kneipenbesitzer. »Ihr seid also echte Russen. Und wir dachten schon, ihr seid so Fernsehfuzzis vom ZDF.«
    »Nee, damit haben wir nix zu tun!«, konterten wir. »Die anderen hier, die sind vom ZDF, aber wir sind nur freie Mitarbeiter«, distanzierte ich mich für alle Fälle von meinem Sender. Die Brücke des Vertrauens war geschaffen, der Kameramann aß schnell eine Erbsensuppe und baute seine Kamera hinter dem Tresen auf. Jurij und ich stellten uns auf die andere Seite.
    »Nachträglich möchten wir dem großen Sänger Jim Morrison für seine tolle Platte Break on Through to the Other Side einen großen Dank aussprechen«, sagte ich in die Kamera. Danach sangen Jurij und ich auf Russisch, Englisch und Deutsch:
    Ohne dich sterbe ich wie ein Hund im Mai,
    Come on baby, light my fire,
    Come on baby, light my fire.
    Zwischendurch lieferte ich die korrekte deutsche Übersetzung: »Los, Schatz, entfache mein Feuer.«
    Die Männer in der Kneipe grunzten, die Frauen schmunzelten, und die Kinder schrien noch lauter, nur Morrison an der Wand blieb von unserem Gesang unbeeindruckt. Der Kameramann wollte noch ein paar Aufnahmen vor der Tür machen, dann durften Jurij und ich nach Hause fahren. Wir verabschiedeten uns von den Morrison-Fans, wünschten ihnen ein langes, am besten ewiges Leben und telefonierten nach einem Taxi. Die Taxizentrale wollte jedoch weder von der Kneipe Seelenküche noch vom Königsheideweg jemals etwas gehört haben. Also brachen wir einfach in die dunkle Nacht durch, und noch lange hing unser Gesang über den leeren Gassen von Treptow:
    »Ohne dich sterbe ich,
    Los, Schatz, entfache mein Feuer!«
     
    Ich habe dich gesucht
     
    Die Stadt St. Petersburg wurde auf Befehl von Zar Peter dem Größten in einem Sumpf erbaut, einer finsteren Gegend, die früher nur von Mücken bewohnt war. Es war ein Experiment: Peter, ein leidenschaftlicher Wissenschaftler, wollte wahrscheinlich auf diesem Wege prüfen, ob sich die Menschen auch im Sumpf vermehren können. Das Ergebnis war befriedigend: Sie konnten! Alle kamen zwar mit Schnupfen auf die Welt und sahen nicht besonders robust aus, aber sie überlebten. Stolz auf seine gelungene Forschung, ernannte der Zar St. Petersburg zu seiner russischen Hauptstadt. Auf solchen Sümpfen könne man bauen, seufzte er

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