Karaoke
seine Firma. In einem großen Plastikeimer wurde mit einem Riesenmixer das künstliche Blut gerührt. Neben dem Eimer stand ein Arbeiter im blauen Kittel und passte auf, dass alles richtig lief. Überall in der Fabriketage standen Maschinen, die Schminke in verschiedenen Farben produzierten. Ich wollte über die Firma berichten und dabei eine künstliche Glatze tragen.
»Eine Glatze? Kein Problem«, sagte der Chef und brachte mich in den Kryolan-Shop zu seinem Glatzendesigner. Dieser guckte sich nachdenklich meinen Kopf an und schickte seine Kollegin los, sie solle bitte sofort eine richtig scharfe Haarschere bringen.
»Ich will aber eine künstliche Glatze«, warf ich vorsichtig ein.
»Aber sicher doch, ich werde Ihre Haare nicht anfassen, aber eine richtige Glatze ist immer sehr individuell und will zurechtgeschnitten werden«, erklärte der Glatzendesigner.
Eine Ewigkeit verging, bis alles richtig geschnitten und angeklebt war. Alle Kollegen waren neidisch auf meine Glatze.
»Vielleicht mache ich mir irgendwann mal auch so eine«, meinte der Kameramann nachdenklich.
Ich hatte bisher nur einmal eine Glatze getragen — eine natürliche Glatze, in den ersten Monaten bei der Armee. Sie war aber bei weitem nicht so toll gewesen wie die von Kryolan. Wir machten ein paar scharfe Bilder von der Glatze und mir, danach sollte sie wieder abgenommen werden. Mit einem Schnitt wurde sie vom Kopf gerissen, zusammen mit vielen Haaren und der Haut, an der sie festklebte. Ich sah aus, als hätte ich einige Jahre einen Kochtopf auf dem Kopf gehabt.
»Wollen wir den Rest der Dreharbeiten vielleicht verschieben?«, fragte Ulrike, die sich Sorgen um mich machte.
Ich wollte aber unbedingt zu den Doors-Brüdern und hatte sogar schon meinen Freund, den DJ Jurij, angerufen, damit er in die Seelenküche mitkam. Die Doors haben nämlich in seinem und auch in meinem Leben eine wichtige Rolle gespielt. Zum ersten Mal habe ich sie im August 1985 gehört. Damals lebte ich in einer Hippie-Kommune in einem Hochhaus am Rande Moskaus mit acht Männern und Frauen in einer Dreizimmerwohnung. Meine langhaarigen Mitbewohner hatten laufend Probleme — mit den Nachbarn, mit der Polizei, mit der Liebe, mit dem Frieden, mit den Drogen und mit sich selbst. Ich hatte zu diesem Zeitpunkt die Hippie-Phase bereits hinter mir gelassen und war ein sowjetischer Punk geworden: Ich hatte mir die Hälfte der Haare abgeschnitten, meinen Pass im Klo runtergespült und klaute regelmäßig Apfelsinen und Brot im Lebensmittelladen neben unserem Haus. Ich hatte überhaupt keine Probleme — mit nichts.
In unserer Küche lag ein englisches Buch von Jim Morrison auf dem Tisch. Einige Mitbewohner übersetzten dieses Buch gerade ins Russische, sie wollten als erste Morrison-Übersetzer in die Geschichte der russischen Literatur eingehen. Außerdem besaßen sie ein paar Kassetten von den Doors. Unfreiwillig las und hörte ich mit. Meine Englischkenntnisse ließen damals wie heute zu wünschen übrig, trotzdem konnte ich einiges von der Poesie Jim Morrisons verstehen. Anders als viele seiner Kollegen arbeitete er mit kurzen, knappen Sätzen: »People are
strange«, sang er, »No one heregets out alive« und »Come on baby, light my fire«. Diese Gedanken bewiesen geistige Tiefe und Menschenkenntnis. Besonders beeindruckte mich sein Lied »Break on through to the other side«, auf gut Deutsch: »Brich durch zur anderen Seite«. Wieso bin ich darauf nicht selbst gekommen?, fragte ich mich. Ein paar Jahre später nahm ich seinen Aufruf wahr und brach durch — in die DDR.
1990 lief der Film The Doors von Oliver Stone in allen Kinos der Welt. Zu diesem Zeitpunkt lebte ich bereits in Berlin und arbeitete bei einer Firma, die Altkleider sammelte. Ich musste jeden Tag um fünf Uhr früh aufstehen, um es rechtzeitig bis zur Möckernbrücke zu schaffen. Um halb sechs war die U-Bahn bereits proppevoll mit Menschen, die alles andere als freundlich aussahen. Überall in der Stadt hingen Filmplakate mit einem romantischen Morrison-Gesicht. People are strange. »Zwei Tage in der Altkleidersammelstelle und du wärst auch ganz schön strange geworden, Jim«, begrüßte ich die Plakate auf dem Weg zur Arbeit.
1990 war ein schwieriges Jahr. Mein Freund Jurij war damals zwanzig Jahre alt und lebte mit seinen Eltern in Charkow in der Ukraine. Auch dort lief der Film The Doors. Ein Kinobesuch war in der Sowjetunion billiger als ein Apfel, und die Bevölkerung hatte viel Freizeit, sie
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