Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Karaoke

Titel: Karaoke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kaminer Wladimir
Vom Netzwerk:
erleichtert und wandte sich zur Abwechslung der Astronomie zu. Die Petersburger vermehrten sich unterdessen immer weiter, fühlten sich vom Zar auserwählt und waren deswegen unglaublich eingebildet.
    Mit der Zeit wurde noch eine weitere Besonderheit der Hauptstadtbewohner sichtbar: Sie hatten vom Zar die Lust zum Experimentieren geerbt. Alles Neue und Unbekannte, alles, was das Leben in Russland beeinflusste, kam aus St. Petersburg: ob Mode oder abstrakte Kunst, Tuberkulose oder Revolution, Poesie, Architektur, Drogen oder Rock 'n' Roll. Anfang der Achtzigerjahre waren im Leningrader RockClub über achthundert Bands registriert, unter anderem die damaligen Koryphäen der alternativen Musikszene, die heute bereits eine Legende sind: Aquarium, Kino und Zoopark. Der Club war eine begehrte Adresse, es war nicht leicht, dort reinzukommen. Im großen Haus an der Rubinsteinstraße wurden Probenräume angeboten, die Clubleitung schickte ihre Bands auf Tournee und organisierte ständig Auftritte und Festivals. Alles natürlich umsonst, weil Geldverdienen verboten war. Der Club verfügte sogar über einen eigenen Geheimdienst, der aufpassen sollte, dass die Musiker auf Tournee keine Geschenke annahmen.
    Jedes Jahr im Herbst fand eine öffentliche Sitzung aller Mitglieder statt, und die Geheimdienstler trugen ihren Jahresbericht vor. Es waren
    immer dieselben Geschichten. 1982 hatte es zum Beispiel die Band Dschungel gewagt, bei einem Konzert in Riga zwei Kisten Schnaps von ihren weiblichen Fans entgegenzunehmen. Alle Musiker ärgerten sich darüber schwarz und wollten Dschungel sofort aus dem Club verbannen. Doch Grebenschikow, der Sänger von Aquarium, stand auf und sagte: »Wozu sind wir hier? Um Rock 'n' Roll zu spielen, alles andere ist egal!« Dann ging er aus dem Saal an die frische Luft, und alle schämten sich.
    Die jungen Bewohner von Leningrad genossen ein extrem abwechslungsreiches Kulturprogramm. Sie waren geradezu verwöhnt von so viel Rock 'n' Roll. Jeden Tag gab es irgendwo ein Konzert oder eine Fiat-Session. Wir Moskauer konnten davon nur träumen und wurden jedes Mal blass vor Neid, wenn wir in der Wiege der permanenten Revolution zu Besuch waren. Aber unsere dortigen Freunde seufzten nur: »Ach, heute spielt schon wieder Aquarium im Iljitsch-Kulturhaus. Und wir haben dieses Programm schon letzte Woche im Haus der Jugend gesehen.« In Moskau war Aquarium bis zu diesem Zeitpunkt nur zweimal eher zufällig auf der Durchreise gewesen.
    Natürlich lebte der Leningrader RockClub unter strenger Beobachtung der Jugendabteilung des KGB, und die Konzerte fanden nicht immer ganz legal statt. Trotzdem war die Vielfältigkeit der Rockkultur dort beeindruckend. In Moskau gab es zunächst keine solche Vereinigung, dafür hatten unsere Bands eine ganz eigene Ästhetik. Die Leningrader hatten die Quantität, unsere Gemeinde dagegen war klein, aber fein. Das halbe Dutzend Bands, die in Moskau rockten, konnte man nicht mit ihren schnöseligen Kollegen aus dem RockClub in der Rubinsteinstraße verwechseln. Mamonow zum Beispiel, der Sänger und Begründer von Zwuki Mu, hatte Philologie studiert und war von Beruf Übersetzer skandinavischer Sprachen. Er war Mitte vierzig und sah immer etwas schüchtern aus. Zusammen mit seinem jüngeren Bruder und einem reichen Erben eines Kreml-Arztes, der nur ganz schlecht E- Gitarre spielen konnte, gründete er Zwuki Mu und schrieb selbst die Texte:
    Ich bin eine stinkende Taube!
    Speckig, faul, unsauber,
    Jeder kann mich besiegen, Dafür kann ich aber flieeegeen!!!
    Gleich nach seinem ersten Auftritt im Haus der Architekten wurde er zum Superstar der Moskauer Jugend. Es war Liebe auf den ersten Blick. Wie das Haus der Architekten damals auf die bescheuerte Idee gekommen war, Mamonow für ein Konzert einzuladen, blieb unverständlich.
    Der Sänger ließ sich von zwei Arbeitern in einem riesengroßen grünen Plüschsessel auf die Bühne tragen. Alle Musiker trugen weiße Dreiteiler vom Feinsten, ihre Anzüge waren jedoch zerknittert und einige Nummern zu groß.
    »Wir sind die letzte Hoffnung der sozialistischen Kultur, wir bringen dem Volk die Freude an der Musik wieder zurück«, verkündete Mamonow laut aus dem Sessel. »Wir brauchen mehr Raum, wir brauchen mehr Licht! Wo bleibt das Fernsehen?«
    Er nahm die dunkle Brille ab. Seine rot-gelben Augen, wie die eines Werwolfs, selbst gebastelt aus einem aufgeschnittenen Tischtennisball, erschreckten die Architekten. Stinkender Kunstnebel

Weitere Kostenlose Bücher