Karaoke
bedeckte langsam die Bühne. Mamonow sang, zog die Schuhe aus und schmiss sie ins Publikum. Obwohl er wegen der falschen Augen nichts sehen konnte, traf er gleich beim ersten Wurf eine Frau genau an den Kopf. Sie riss sich daraufhin die Kleider vom Leib, hob Mamonows Schuhe auf, küsste sie und schrie: »Mamonow, ich liebe dich!«
»Ich dich auch«, antwortete der Sänger ins Mikrofon.
Die Architekten verließen langsam den Saal. Das junge Publikum jubelte. Die Frau mit dem Schuh erwies sich später als Mamonows angetraute Ehefrau. Das Konzert dauerte ungefähr zwanzig Minuten. Dann kam die Miliz, machte den Strom aus und ließ alle verhaften.
Eine andere Moskauer Band hieß Nikolaus Kopernikus. Jurij Orlow war ihr Anführer. Seine Spezialität war es, psychedelische Musik mit offiziöser sowjetischer Poesie zu verknüpfen. Orlow, ein viel versprechender Absolvent des Moskauer Konservatoriums, war mitten in seiner großen Karriere ausgestiegen, um sich aufs Glatteis der alternativen Kultur zu begeben. Für jeden Auftritt stellte er seine Band neu zusammen, und er nahm jeden: die Akkordeoninvaliden von der Straße und Studenten aus
dem Konservatorium, Soldaten und Hunde, und auch Priester und Alkoholiker machten bei ihm gern mit. Orlow trug zweihundert Lenin- Anstecker an seinem Anzug. Bei gutem Wetter fingen die Anstecker die Sonne, und Orlows Körper verströmte Licht. Er hielt sich für Lenins Nachfolger und erzählte jedes Mal der Miliz, er bringe das Licht des Kommunismus unter die Massen. Die Miliz konnte mit dem Mann nichts anfangen. Licht auszustrahlen war nicht direkt verboten. Außerdem hatte Orlow für alle Fälle immer eine Bescheinigung dabei, in der schwarz auf weiß stand, dass er verrückt sei.
Daneben gab es auch noch andere Musickollektive, die in Moskau lebten und arbeiteten: Brigade S. Va Bank, Chudo-Yudo. Alle waren mit herausragenden Persönlichkeiten besetzt — schlechte Musiker und schräge Vögel. Aus diesen Bands und ein paar anderen, die später dazukamen, entstand 1983 auch in Moskau ein RockClub, ähnlich wie bei den Kollegen in Leningrad. Die Jugendabteilung des Moskauer KGB hatte zu diesem Zeitpunkt gelernt, wie man am besten mit der Rockszene umging: Man organisierte alles selbst, dann hatte man alle an einem Ort und ständig im Griff. In Moskau übertrieben sie es aber ein wenig, als sie einen Offizier aus den eigenen Reihen zum Leiter des RockClubs ernannten. Er hatte, bevor er zum KGB kam, eine Musikausbildung am Krupskaja-Kulturinstitut absolviert, und zwar im Fach »Führung eines Volkstanz-Kollektivs«. Sein Erscheinen im Club löste zuerst eine große Protestwelle aus, er erwies sich jedoch als schlechter Spitzel und großartiger Säufer. So konnte er zum Beispiel Wodka aus einem Sieb trinken, ohne einen Tropfen zu verlieren. Er etablierte sich schnell im neuen Kollektiv, und die Musiker gaben ihm den Spitznamen »Dirigent«. Am liebsten hätte der KGB auch noch selbst Musik gemacht, aber es mangelte ihm an Talenten.
Zum ersten Moskauer Festival »Rock Richtung Frühling« kamen viele namhafte Gäste aus Leningrad: Kino, Aquarium, Alisa und die Automatischen Befriediger. Die Räume stellte das Moskauer Öl-Gas-Institut zur Verfügung, eine der unbekanntesten Lehranstalten in der Stadt. Das Institut befand sich dicht an der Stadtgrenze, zwischen einem Wald und einem Güterbahnhof, war nur zu Fuß erreichbar und gut zwei Kilometer von der letzten Straßenbahnhaltestelle entfernt. Außerdem war das Gelände von einem hohen Zaun umgeben, also ein idealer Ort für ein
Rockfestival. Die KGB-Mitbegründer hatten gehofft, das junge Publikum sei zu faul, um so weit zu laufen. Es kam aber anders: Über Nacht wurde das Gelände des Öl-Gas-Instituts zum wichtigsten Veranstaltungsort der Stadt. Tausende strömten dorthin. Nur einige hundert durften rein. Die Jugendlichen stürmten das Gebäude aus allen Richtungen, kletterten über den Zaun, stiegen aufs Dach und drangen durch die Fenster ein. Zwei Tage dauerte das Programm: Die Automatischen Befriediger hauten auf der Bühne ihre Gitarren kaputt, Kino besang das glückliche Leben auf einer Mohnplantage, und Alisa versetzte die Mädels in Trance. So etablierte sich Moskau zu einer neuen Rock-'n'-Roll- Adresse in der Sowjetunion. Danach folgten Swerdlowsk, Novosibirsk, Kiew und viele andere Städte.
An der Schwelle zur Perestroijka wurde der strenge Polizeiblick auf die Jugendkultur etwas lockerer: Die einzige sowjetische
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