Karaoke
Plattenfirma Aprelewskij Savod Grammplastinok Melodia presste ein paar Rolling- Stones- und David-Bowie-Platten, dazu noch einiges von russischen Bands. Und dann ging auf einmal alles sehr schnell. Die Szene verließ ihre gemütlichen Kellerräume und trat in den großen Stadien von St. Petersburg, Moskau und Swerdlowsk auf. Es folgte der erste skandalöse Auftritt von Aquarium im Fernsehen, dann der zweite und der dritte. Die Jugendabteilung des KGB zog sich zurück und löste sich bald auf, die RockClubs wurden nicht mehr gebraucht, der Sozialismus kippte um. Alle waren auf einmal frei und alles öffentlich zugänglich. Mit dem Ende des Sozialismus verlor die Szene ihren Charme und ging blitzschnell unter, zusammen mit anderen Errungenschaften der früheren Zeit: der Untergrundliteratur, dem antisowjetischen Gruppensex — denn nur die Liebe macht frei in einer totalitären Gesellschaft — und dem Glauben an Amerika. In die Räume des RockClubs in der Rubinsteinstraße zog ein »erotisches Nachttheater« ein. Die achthundert Bands verschwanden spurlos, und schon nach einem halben Jahr konnte sich kaum einer mehr an sie erinnern.
Der Club verfügte früher über ein großes Musikarchiv. Ein Teil davon wurde privat abgeräumt, ein anderer Teil landete im Kiosk am Bahnhof. Die Kassetten verkauften sich aber nicht mehr. Der ganze russische Rock 'n' Roll war als Protest gegen den öden sozialistischen Alltag entstanden. Die Texte waren wichtig. Und die Musik? Sie war
schon immer Scheiße gewesen. Die neuen Zeiten versprachen ein anderes Leben in einer freien demokratischen Gesellschaft. Das klang viel versprechend. Nun wollten alle endlich auch mal schöne Musik hören. Und was ist schöner als Pop? Der Untergang der Rockszene schien vollkommen und unwiderruflich. Das große Geschäft mit dem Pop begann.
Die erste Regel des Kapitalismus hieß: Man darf nie zu anspruchsvoll sein. Egal, was du verkaufst, Computer aus Amerika oder Pantoffeln aus Vietnam, es zählt nur der Profit. Schnell haben die großen Geldmacher festgestellt, dass man mit Popmusik unter Umständen schneller und mehr verdienen konnte als mit Kunstlederjacken aus der Türkei. Sie fingen an, die Popstars wie am Fließband zu produzieren. Das war nicht schwierig, denn die Jungen und Mädchen mussten ja nicht unbedingt singen oder spielen können. Hübsch sein und Mitleid erregen, mehr nicht.
»Mit Pop ist es wie mit dem Betteln«, sagte mir einmal ein Produzent, »wenn du die Kunden nicht verführen kannst, dann musst du sie zum Mitleid bewegen.« Deswegen beschränkte sich die PopsongProblematik auf zwei Themen, die Liebe und den Knast. Noch besser beides zusammen: Liebe im Knast oder Knast der Liebe — das waren die absoluten Renner. »Du brauchst nur ein Knastgitter auf das Cover zu zeichnen und ein halb nacktes Mädchen dahinter, schon hast du die erste Auflage verkauft«, erzählte der Produzent.
Der Markt wurde von Tag zu Tag unübersichtlicher. Dutzende von Nataschas, Annas, Viktors und Wladimirs sprangen im Fernsehen herum und winkten mit den Händen. Alle Popstars waren nach demselben Muster gestrickt und unterschieden sich kaum voneinander. Doch das störte niemanden. Es hatte sogar einen großen Vorteil: Die Jungs und Mädchen konnten zur Not immer füreinander einspringen, und keiner merkte etwas. Groß investieren mussten die Produzenten auch nicht, im Gegenteil: Jeder, der Geld hatte, wollte seine Frau, Tochter oder Geliebte zum Popstar machen.
Diese Star-Macherei entwickelte sich mit der Zeit zu einem Volkssport unter reichen Russen. Eine ganze Armee von Videoclipproduzenten, Studiobossen, Fernsehteams und Journalisten stand ihnen dabei
zur Verfügung. Auf diese Weise übte der Pop sogar einen gewissen Einfluss auf die neue Marktwirtschaft aus: Als der singende Sohn von Sergejew, dem Besitzer der größten Lebensmittelladenkette Russlands, in die Hitparade kam, wurde schlagartig die Wurst teurer. Und nachdem es Alsu, die Tochter eines Ölmagnaten, bis in den Grand Prix d'Eurovision geschafft hatte, stiegen prompt die Ölpreise. Die Popsänger mussten nicht jedes Jahr ihr Publikum mit einer neuen Platte überraschen. Ihr Job war ein anderer: möglichst viel reisen, viel im Fernsehen lächeln, viel auftreten. Die Lieder wurden sowieso immer vom Band abgespielt, während die Sänger auf der Bühne nur den Mund auf- und zumachen mussten. Das Publikum war nicht wählerisch und für alles dankbar.
Um eine größere Präsenz zu gewinnen,
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