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Karaoke

Titel: Karaoke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kaminer Wladimir
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Türsteher zu beeindrucken.
    Dieser hielt seine Geschichte jedoch für zu unglaubwürdig. »Du kannst mir erzählen, dass bei euch im Kaukasus die Kühe sich selbst melken und die Wölfe Eier legen«, sagte er, »aber erzähl mir nicht, dass bei euch die Igel fliegen, die können doch nicht mal springen!«
    An manchen Abenden trafen russische und deutsche Journalisten an der Theke aufeinander; dann versuchten sie, mit dem Austausch von Trinksprüchen eine journalistische Verbindung zwischen beiden Kulturen herzustellen.
    »Na sdorozvje!«, sagten die deutschen Kollegen.
    »Ich habe doch gar nicht genießt!«, gaben sich die Russen beleidigt, weil es ein polnischer Trinkspruch war, lagen aber ihrerseits mit ihrem fröhlichen »Hitler kaputt!« daneben. Nur in einer Frage konnten sie sich einigen, nämlich was den ukrainischen Boxer Klitschko betraf: dass er eigentlich nicht boxen kann und dass sein ständiges Klagen über Rückenschmerzen unerträglich für einen Boxer ist. Aber das wäre eben typisch ukrainisch.
    Auf Dauer gingen uns die Berichterstatter jedoch auf die Nerven, und wir verhängten ein Journalistenverbot bis zum Ende des deutschrussischen Kulturjahres — mit einer Ausnahme: Das Fernsehen durfte rein. Ich hatte Achtung vor dem Mann mit der Kamera.
    Die magische Kraft des Fernsehens hatte ich schon als Kind zu spüren bekommen. Wir lebten damals in einem Plattenbau am Rand von Moskau, und gegenüber von uns wohnte ein junger, unauffälliger Student, für den sich keiner im Haus interessierte. Er ging morgens zur Universität und kam spät nach Hause. Viel interessanter für die Omas, die im Hof auf einer Bank die Überwachungsstelle bildeten, war seit eh und je die rothaarige Krankenschwester Anna aus dem dritten Stock, die sich noch nie mit einem Mann hatte erwischen lassen, aber schon zum zweiten Mal schwanger geworden war. Doch dann erschien eines Tages unser unauffälliger Nachbar im Fernsehen, und zwar zur besten Sendezeit um achtzehn Uhr dreißig in der beliebten Sendung Der Mensch und das Gesetz. In einem Beitrag über die Moskauer Ausnüchterungszellen hatte er einen kurzen, aber eindrucksvollen Auftritt. Unser Student saß nackt auf einem Bett, hielt eine Hand vor sein Gesicht und zeigte mit der anderen der Kamera seinen Stinkefinger. Einige aus dem Haus hatten ihn gesehen, die anderen bekamen die Geschichte mit immer neuen, pikanteren Details nacherzählt. Die schwangere Krankenschwester Anna aus dem dritten Stock war vergessen, dafür genoss der Student als einziger Fernsehstar des ganzen Wohnblocks ab sofort große Popularität. Noch Monate später sprangen die Omas vor lauter Aufregung auf, wenn sie ihn im Hof sahen, und die Kinder baten ihn um ein Autogramm. Das kollektive Bewusstsein unseres Hauses nahm diesen Mann für immer als »Fernsehstudent« auf, bald hielten ihn alle für einen guten Bekannten.
    Inzwischen weiß ich aus eigener Erfahrung, dass die Glotze eine stille, aber ungeheure Macht besitzt. Ein Knopfdruck, fünf Minuten durch die Kanäle zappen, und schon streuen sich unbekannte Menschen durch dein Gedächtnis. Weil es dort keine Extraschublade fürs Fernsehen gibt, landen diese Fremden überall da, wo man seine Freunde, Bekannten und Verwandten gespeichert hat. Diese aus Funk und Fernsehen bekannten Männer und Frauen bewegen sich in deinem Hirn hin und her, sie kochen, machen blöde Witze, stellen Quizfragen, trinken Radeberger oder küssen sich, und man glaubt sie von Mal zu Mal besser zu kennen. Oft sorgt das für Irritationen. Neulich trafen mein Freund Georgij und ich zum Beispiel schon wieder Biolek auf der Straße. Georgij rannte sofort zu ihm hin und klopfte ihm freundlich auf die Schulter.
    »Hallo, Sie sind doch Biolek! Ich habe Sie im Fernsehen gesehen! Kann das sein?«
    Biolek wirkte überrascht. So überrascht, dass er sogar ein wenig in die Hocke ging und seine Penny-Markt-Tüte fallen ließ. Georgij wollte ihm eigentlich nur guten Tag sagen, war sich dann aber nicht mehr sicher, ob es tatsächlich der echte Biolek war.
    »Tut mir Leid, ich habe mich geirrt! Ja, es tut mir Leid, ich dachte, Sie wären Biolek. Aus dem Fernsehen. Der Koch! Biolek!«
    »Leck dich doch selbst!«, erwiderte der Alte und drohte mit der Faust.
    Mein Freund war im Nachhinein sauer auf den Alten, aber ich konnte diesen Biolek gut verstehen. Auch mir fällt es schwer, eine passende Haltung zu entwickeln, wenn ich auf der Straße wegen einer Fernsehsendung angesprochen werde. Die

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