Karaoke
drückte mir eine CD in die Hand. »Das musst du dir unbedingt anhören, das ist meine Musik. Ich spiele hier Gitarre und singe Texte, die ich selbst geschrieben habe. Ich bin eigentlich Künstler, weißt du? Als Landsmann kriegst du sie für fünf Euro, für die Qualität kann ich garantieren. Ich habe davon schon tausend Stück verkauft, und niemand hat sich beschwert. Sag jetzt nicht Nein, das würde mich echt beleidigen!«
Der Boxer war so aufgeregt, dass ich seine Musik tatsächlich kaufte. Zu allem Überfluss hieß die Platte auch noch Meine besten Lieder. Ich glaubte ihm sofort, dass er bereits locker tausend über den Tresen geschoben hatte. Wahrscheinlich hat jeder eine bekommen, der jemals seinen Laden betrat.
»Hör sie dir in Ruhe zu Hause an, und wenn du der Meinung bist, damit stimmt was nicht, komm wieder vorbei, und wir diskutieren darüber«, sagte das Multitalent.
Ich habe die Platte noch immer nicht ausgepackt, auch die Gurken warten im Kühlschrank. Wir sind noch nicht reif füreinander: ich und die Lebensmittelladen-Musik.
Lass uns rennen, lass uns reiten
Deutschland ist ein sensibles Land. Wenn eine Moschee in Holland brennt oder Osama bin Laden in den Nachrichten erscheint, entfacht das hierzulande sofort eine Diskussion über die deutsche Leitkultur. Von hohen Tribünen aus wird über die besondere Wichtigkeit dieser Leitkultur im Alltag philosophiert und gefordert, dass sich die Zugezogenen, Nicht-Eingeweihten gefälligst besser anpassen sollen. Beim einfachen Volk kommt diese intellektuelle Auseinandersetzung in einer vereinfachten Variante an, und schon wird man auf der Straße von wildfremden Menschen im Plural angepöbelt: »Sprecht Deutsch! Ihr seid in Deutschland! Hier wird Deutsch gesprochen! Am besten, ihr geht wieder zurück in eure Heimat!« Alle Wächter und Schützer der Leitkultur werden wachsam. Sie lauschen und fühlen sich sofort angesprochen, wenn sie nur ein Wort hören, das sie nicht verstehen. Aber eigentlich haben sie kein Recht, fremden Leuten zuzuhören. Es geht sie nichts an, in welcher Sprache ich mich zum Beispiel mit meinen Freunden unterhalte. Also pöbeln wir uns gegenseitig an, wobei natürlich beide Seiten Recht haben, wie es halt immer ist, wenn es um solche wichtigen Dinge wie die Leitkultur geht.
Auch in meiner Heimat reden die Leute allerorts gern von ihrer sakralen nationalen Kultur, der sich alle anderen Ethnien gefälligst unterwerfen sollen. Nach Auflösung des sowjetischen Imperiums hatten die neu gebackenen »Nationaldemokraten« in allen fünfzehn ehemaligen Republiken sofort diese Debatte ins Leben gerufen, alles selbstverständlich anständige Leute, die nur das Beste für ihr Volk wollten. Sie forderten ihre lange Zeit von den Minderheiten und den Kommunisten unterdrückte Leitkultur. Im Kampf für ihre nationalen Werte waren sie sich für nichts zu schade, und schnell verlor dieser Kampf jeden intellektuellen Anschein. Er wurde mit allen Mitteln geführt — Propaganda, Terror, Deportationen, Geiselnahmen, Massenmord. Immerhin ging es um
nichts Geringeres als das Recht des Volkes auf Selbstbestimmung, um die vorherrschende Glaubensrichtung, um die historische Gerechtigkeit!
Heute, vierzehn Jahre und etliche tausend Leichen später, stellen die Vordenker von damals mit Erstaunen fest: Nirgendwo, in keiner einzigen Republik, ist das Leben gerechter geworden. Schlimmer noch, es hat sich überhaupt nichts verändert in Sachen Leitkultur. An der Macht sind in den meisten Republiken die gleichen Schurken, die schon unter den Kommunisten regierten. In einzelnen Fällen haben sie ihre Amter ihrem Nachwuchs hinterlassen, wobei die Traditionen der Urväter von ihnen genauso wenig befolgt werden wie früher. Die Minderheiten sind nicht ausgerottet worden, wenn auch viele weggezogen sind, aber das hat keinem Land den Aufschwung gebracht. Und die Leitkultur? Ich habe den Eindruck, kaum jemand hat hier wie dort eine klare Verstellung davon, was das ist. Hätten sich die Menschen nur mehr füreinander interessiert, hätten sie ihre Kulturen gegenseitig bereichert, dann wäre eine solche pseudokulturelle Debatte nie zustande gekommen. Aber die meisten wollen nach wie vor nichts voneinander wissen und verbarrikadieren sich hinter ihrer dummen Leitkultur.
Nehmen wir als Beispiel die Musik. Von den Deutschen kennen die meisten in Russland nur Rammstein. Alt und Jung, alle finden Rammstein gut. Sie sollen sogar bei dem neuen russischen
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