Karaoke
schafften sich manche Popbands Doppelgänger an. Besonders bemühte sich in dieser Hinsicht die Gruppe Der kuschelige Mai. Laut einer Legende bestand sie komplett aus unehelichen Kindern Michael Gorbatschows aus Stawropol. Dort hätte er seinerzeit viele wilde Geschichten mit Frauen gehabt, erzählte man sich. Zum Beweis wurde immer wieder ein Foto in den Zeitungen veröffentlicht: Auf dem Bild hielt Gorbatschow den jungen Sänger vom Kuscheligen Mai auf dem Schoß und strich ihm über den Kopf. Die Gruppe Der kuschelige Mai — vier hübsche Jungs zwischen zwölf und sechzehn, alle mit einem großen Leberfleck auf der Stirn und sehr süß — hatte eine achtfache Doppelbesetzung. Das ermöglichte der Band, flächendeckend zu arbeiten: Sie konnte an einem einzigen Abend in acht verschiedenen Städten gleichzeitig Konzerte geben. Die Jungs wurden in kürzester Zeit steinreich. Doch die Doppelgänger waren auch nicht blöd. Schnell merkten sie, worauf es ankam, lösten sich von ihren ursprünglichen Arbeitgebern und tourten auf eigene Faust weiter. Dabei behaupteten alle Gruppen, sie seien die einzig echten. Eine Zeit lang gab es acht echte Kuschelige Mais im Land, die sich ständig stritten, miteinander konkurrierten und daran letztlich scheiterten.
Die Popkultur blühte aber immer weiter. Die Jungs und Mädchen kamen und gingen, aber die Betriebsleitung blieb: ein vorbestrafter Komponist und vier alte Poeten, die für die Texte verantwortlich waren. Die Strophen mussten sich reibungslos reimen, und Wörter mit mehr als fünf Buchstaben durften nicht verwendet werden. Der Kom
ponist hatte in seinem früheren Leben einen Videosalon zu Hause betrieben und Pornofilme verkauft. Dafür war er zwei Jahre im Knast gelandet, wo er komponieren gelernt hatte.
Von der alten Garde, den Helden der Subkultur, sind auch einige im Geschäft geblieben. Einer, Makarewitsch von Zeitmaschine, hatte dann plötzlich eine eigene Fernsehsendung. Er kochte dort jede Woche live verschiedene Gerichte, außerdem warb er auf zahlreichen Plakaten für Wunderbratpfannen aus Teflon und Mixgeräte der Marke Philips. Er war dick geworden und bei den Hausfrauen des Landes sehr beliebt.
Ein anderer, der Schlagzeuger von Zwuki Mu, wurde Herausgeber des russischen Playboy und musste sich jeden Monat neue Sextipps einfallen lassen.
Viele Rock 'n' Roller sind aber auch jung gestorben — bei einem Autounfall wie der Sänger von Kino oder im Suff wie der Sänger von Zoopark. Manche sind ins Ausland gegangen, nach Amerika, oder haben sich, wie Mamonow, auf dem Land niedergelassen. Er lebt seit Jahren in einem kleinen Dorf, füttert die Katzen vor der Dorfkirche und macht bei den dortigen Bauern Haschisch populär. »Kiffen statt trinken!«, lautet sein Agrarprogramm.
Ein anderer Held von damals, der lebenslustige rotwangige Akkordeonspieler der Gruppe Null, hat das Aussterben seiner Szene gar nicht mitbekommen. Gerade noch rechtzeitig, bevor der Sozialismus zu Ende ging, stach er seine Freundin mit dem Messer nieder und landete für sechs Jahre im Knast. Danach verbrachte er noch einige Jahre in einer Klapsmühle. Dort kam er zu dem Schluss, dass seine EX-FREUNDIN doch keine Hexe und folglich die ganze Tat umsonst gewesen war. Er fand in der Klapse den Sinn des Lebens wieder und wurde als überzeugter Zeuge Jehovas entlassen. Im Knast und besonders in den russischen Irrenhäusern ist diese Sekte sehr einflussreich. Nun trägt der ehemalige Akkordeonspieler einen grauen Anzug, spricht leise, sieht überall Licht und musiziert nur noch für seine Gemeinde.
Mit der Zeit hatten sich alle mehr oder weniger am »freien Leben in der demokratischen Gesellschaft« satt gegessen. Der flächendeckende Pop ging ihnen langsam auf die Nerven. Es entstand aufs Neue ein Widerstandspotenzial, diesmal gegen den korrupten totalitären Kapita
lismus und die bitter-süße Popkultur, Quelle der allgemeinen Verblödung. Der alte Geist des Rock 'n' Roll schien wieder aufzuerstehen. Er hatte sich äußerlich fast bis zur Unkenntlichkeit verändert, aber der kritische Anspruch war wie früher hoch, und die Musik hörte sich richtig beschissen an. Die ersten Vorboten kamen wie immer aus St. Petersburg. Zum Beispiel Leningrad, eine Band mit fünf bis zwanzig Musikern, einem stets besoffenen Solisten namens Schnurow, dreisten Texten, die nicht ins Fernsehen und in den Rundfunk dürfen, weil sie zur Hälfte aus schlimmen Schimpfwörtern bestehen, und einer Vorliebe für
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