Karaoke
Ska-Rhythmen. Die Band eroberte schnell die Herzen der jungen Leute. Leningrad machte sich über alles lustig, besonders über den Pop.
Einmal produzierte die russische Britney Spears namens Zemfira einen neuen Hit: »Gesucht«. Es ging darin um Liebe und Verzweiflung: »Ich, ich hab dich gesucht, von dir habe ich nächtelang geträumt...« Schon am nächsten Tag präsentierten Leningrad der Öffentlichkeit ihren Gegenhit »Gefunden«: »Mich! Du hast mich gesucht! Du hast mich gefunden! Ich war es, der hässliche Zwerg aus deinem Traum«, sang Schnurow. Die Agentur von Zemfira reichte eine Klage vor Gericht ein: Leningrad habe die Melodie für den Hit »Gefunden« von Zemfiras Lied »Gesucht« geklaut. Das sei gesetzeswidrig, und deswegen dürfe Leningrad den Hit »Gefunden« nicht öffentlich spielen. Schnurow gelang es jedoch zu beweisen, dass es in den beiden Liedern »Gesucht« und »Gefunden« gar keine eigenständige Melodie gäbe, die man hätte klauen können. Die musikalische Begleitung bestünde bloß aus Geräuschen, und singen könnten sie beide sowieso nur falsch. Schnurow gewann diesen Kampf und durfte nun das Lied »Gefunden« überall in der Öffentlichkeit singen. Er wollte aber nicht.
Bei uns in der Russendisko legen wir viel Leningrad auf und keinen Plastikpop aus der ehemaligen Sowjetunion. Dafür werden wir oft von unseren Landsleuten beschimpft, die leichte Popmusik haben wollen. Wir nehmen ihnen das nicht übel. Kein DJ der Welt kann es allen recht machen, ein russischer schon gar nicht. Wenn die Stimmung bei uns in der Disko hochkocht, gibt es immer zwei, manchmal drei Mädchen, die neben uns stehen und uns vorwurfsvoll anschauen. Das sind unsere Landsleute, die unsere Musik nicht mögen. »Wann kommt die normale
Musik?«, fragen sie. Normaaale Musik! Ups-Ups, Tatoo, Alsu! Und jedes Mal, wenn ich antworte, dass die normale Musik niemals kommen wird, werden sie ganz traurig.
»Ich schäme mich für euch, Jungs«, sagte neulich Lena aus Charkow. »Ich habe zu Hause mehr normale Musik als ihr in der ganzen Disko! Warum legt ihr das nie auf? Ihr könnt doch hier in jedem russischen Lebensmittelladen richtige Musik kaufen!«
Sie hat Recht. In jedem dieser Läden steht immer ein Pappkarton neben der Theke mit billigen Popplatten, die zu Millionen in Russland produziert werden und alle gleich aussehen. Wir nennen sie verächtlich Lebensmittelladen-Musik. Diese Lena aus Charkow fand ich so sympathisch, dass ich ernsthaft überlegte, sie über Musik aufzuklären, obwohl ich aus Erfahrung weiß, dass eine solche Aufklärung nur schief gehen kann. Wahrscheinlich ist sie neben einem russischen Lebensmittelladen aufgewachsen und hat diese Musik aus dem Pappkarton zu jedem Geburtstag geschenkt bekommen. Sie hatte einfach keine Chance, wahre Musik kennen zu lernen, all die mit Geist und Seele gespielten Werke, das musikalische Weltkulturerbe — Ramones, Sex Pistols, The Clash... Hätte Lena neben einem Punkclub gewohnt oder wären ihre Eltern Gruftis gewesen, dann hätte ihr Musikgeschmack sich bestimmt in eine ganz andere Richtung entwickelt.
Neulich erzählte mir ein Freund, der Sozialpädagoge ist und mit Gefangenen in einem Jugendknast arbeitet, wie sich der Direktor des Gefängnisses bei ihm beschwerte. Die Insassen dort haben eine eigene Radiosendung namens Strafzeit, bei der die Knackis ihre Lieblingsmusik bestellen können. Die Deutschen hören am liebsten Queen, Led Zeppelin, Scorpions und Peter Maffay. Von dieser Musik werden sie sentimental und ruhig. Bei den russischen Knackis bewirkt diese Musik aber genau das Gegenteil: Wenn sie Maffay hören, drehen sie total durch, werfen sich auf die Lautsprecher und wollen sofort in ihre Heimat ausgeliefert werden. Einer hat nach einer halben Stunde Scorpions einen Wächter sogar dermaßen vermöbelt, dass der sich nicht mehr traute, zur Arbeit zu gehen. Erst nachdem mein Freund, der Sozialpädagoge, in einem russischen Lebensmittelladen eine ganze Plattenkiste für die Sendung gekauft hatte, kehrte Ruhe im Karton ein.
Ich habe nur einmal eine Platte in einem russischen Lebensmittelladen gekauft, und das war eher ein Unfall. Eigentlich wollte ich nur ein Glas mit Salzgurken kaufen, mit dem tollen Etikett »Die Salzgurke von damals, oh, dieser längst vergessene Geschmack«. Der Verkäufer hinter dem Tresen sah aus wie ein praktizierender Boxer aus der Schwergewichtsklasse.
»Du liebst also Gurken. Dann wirst du das hier auch mögen«, sagte er und
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