Karaoke
seine Gründe? Ich glaube, die Menschen singen nie ohne Grund. Die jungen Punks vor dem McDonald's singen, um etwas Futter für ihre Hunde zu kaufen, die Kleinkinder im Kindergarten müssen es tun, weil sie in einer pädagogischen Maßnahme stecken, die deutschen Superstars singen, weil sie ins Fernsehen wollen.
Warum singt aber der ganz normale Erwachsene? Aus Lebensfreude, behauptete ich einmal. Mein Freund und Kollege Helmut Höge, ein
ehemaliger Landwirt und Maoist, aber meinte im Gegenteil, das Singen sei eine Form des Widerstands gegen verschiedene Formen von Unterdrückung. Ich sprach von den glücklichen Urmenschen, die nach einer gelungenen Mammutjagd aus ihren Höhlen herauskrabbelten und sich dem gemeinsamen Gesang am Lagerfeuer widmeten, um ihrer Zufriedenheit Ausdruck zu verleihen. Sie grölten und jauchzten unter freiem Himmel, rissen sich die Pelze vom Leib, versanken in musikalische Ekstase und schufen dadurch die zwei Millionen Jahre alte Grundlage für die Folklore-Sendung Musikantenstadl, die heute für Lebensfreude steht.
Helmut widersprach und behauptete, nach einer erfolgreichen Jagd würden die Urmenschen niemals singen wollen, eher würden sie schlafen gehen. Wenn aber die Höhle einstürzte, die Mammuts abhauten, die Feinde von allen Seiten das Lager umzingelten, dann stand der Urmensch auf und fing an zu singen. Die gesamte Musikgeschichte sei eine Geschichte der Unterdrückung und Sklaverei, meinte er: Man denke nur an die schwarzen Sklaven in Amerika, die den Rock 'n' Roll schufen, oder die Zigeuner, die die europäische Musik beeinflussten — je stärker die Menschen unterdrückt werden, umso lauter singen sie.
Die Friesen, als große Ausnahme, hatten Glück. Sie gewannen alle Kriege, führten erfolgreich viele Aufstände und ließen sich nicht einmal von den fortschrittlichen Römern versklaven. Sie waren herausragende Deichingenieure und -bauer, zimmerten Piratenschiffe, pflanzten Gurken an, aber sie sangen nicht. Schon die römischen Geschichtsschreiber schrieben empört: Frisia non cantat! Sie hielten die Friesen für unterentwickelt. Dabei hatten diese einfach keinen Grund zu singen, sie waren frei. Auch die Schweizer, die zwei Weltkriege und andere allgemein europäische Katastrophen gut überstanden, haben nur am Rande in der Weltmusik mitgemacht und geben sich nun mit der kleinen, schmuddeligen Jodelecke im deutschen Musikantenstadl zufrieden.
Mein letzter Trumpf in dieser Debatte war der protzige Untergang der österreichischen Monarchie, der die ganze Zeit von lustigen, lebensfrohen Walzern und beeindruckenden Opern begleitet wurde. Unser Weltkulturerbe, die klassische Musik! Mendelssohn-Bartholdy, Mozart und Salieri? War ihr Werk nicht Ausdruck der Lebensfreude?
Ganz und gar nicht, erklärte Helmut, sie wurden alle von Monarchen unterdrückt. Sie mussten fünf Walzer pro Woche liefern, um den Hof zu unterhalten, wollten aber in Wirklichkeit bestimmt etwas ganz anderes tun.
Was? Ich bekam langsam kalte Füße. Was wollten sie in Wirklichkeit? Rock 'n' Roll?
Gar nichts, sagte mein Kollege nachdenklich. Einfach nur still in einer Ecke sitzen und den Sternen zuschauen.
Und die Musik von heute? Unterdrückung pur. Entweder wird der Musiker oder sein Publikum gequält. Michael Jackson wurde von seinem Vater als Kind auf den Elektroherd gestellt, wodurch er seinen berühmten »Moon Walk«-Tanzschritt lernte und zum King of Pop wurde. Der Rapper Eminem hatte eine schlimme Kindheit und konnte so den weißen Sklaven Amerikas eine Stimme verleihen. Und auch die gesamte Rockkultur der Sowjetunion ist aus großem Frust entstanden: Es gab keinen Kinderkanal im Fernsehen, nicht einmal MTV, nur langweilige Pionierlager, schlechte Zigaretten und billigen Schnaps. Damit ließe sich auch erklären, warum die Russen so singanfällig sind. Wir wurden seit Anbeginn der Zeiten unterdrückt, von den Mongolen und Tataren, von Schweden und Franzosen, von der Monarchie und der Revolution, von Stalin und Hitler, von allen, die danach kamen, von schlechtem Wetter und letztendlich von Putin und dem Wildkapitalismus der neuen Zeit. Deswegen können die Russen, selbst wenn sie einander zum ersten Mal sehen, stundenlang zusammen zur Gitarre singen, und immer kennen alle den Text.
Die Deutschen waren zwar auch ähnlich die ganze Zeit unterdrückt und hätten davon ein endloses Lied singen können, haben aber nach 1945 alle Texte vergessen. Deswegen schweigen sie wie Fische, was einem besonders bei
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