Karaoke
Globalisierung den Musikgeschmack der Menschen fest im Griff. Deswegen ist auch das Musikgeschäft rund um den Globus langweilig geworden. Man denkt manchmal fast, all die Stars würden Jahr für Jahr nach demselben Muster geklont, die ganzen Superbands kämen alle aus derselben Büchse. Und oft stimmt es sogar. Diese Praktik wird in jedem großen Geschäft verwendet, um bei dem Verbraucher einen Wiedererkennungseffekt hervorzurufen. Denn ohne diesen Effekt geht gar nichts. Wenn die Hamburger in jedem McDonald's-Laden anders aussähen, würden die Leute sie als solche nicht mehr erkennen und verhungern. Genauso ist es mit der Musik. Wenn der Verbraucher Radio hört oder MTV guckt, muss er sofort merken: Hallo, da spielt meine Musik. Für besonders schlaue Zuhörer mit ausgefallenem Geschmack wird in der Büchse noch die so genannte Worldmusic produ
ziert — trommelnde Afrikaner, Bläser aus Indien und Kehlkopfsänger aus der Mongolei —, damit die Schlauen denken, sie würden gegen den Mainstream schwimmen.
Bei uns in der Sowjetunion gab es auch jede Menge Worldmusic, sie wurde vom Staat kreiert und gefördert. Die Sowjetunion war nämlich nicht nur eine mit Atomwaffen ausgerüstete Diktatur, sondern auch ein freiwilliger Zusammenschluss vieler Völker, die alle nichts zu meckern haben sollten. Jede Minderheit war verpflichtet, ihre eigene nationale Kultur zu hegen und zu pflegen, das heißt eigene Sänger, Dichter und Tänzer auszubilden, egal, was es kostete. Um eine kreative Entwicklung dieser Kulturen zu ermöglichen, hatte der Staat ein Quotensystem entwickelt, in dem festgelegt war, wie viele angehende Künstler aus allen Winkeln der Sowjetunion jedes Jahr nach Moskau ans Konservatorium durften. Einige dieser Quotenkünstler sind mit der Zeit zu richtigen Kultfiguren der sowjetischen Kunstszene aufgestiegen. Zum Beispiel der tschetschenische Volksballett-Tänzer Mahmud Isambaew, der dann in vielen sowjetischen Filmen Indianer und böse Außerirdische spielte. Ebenso das feurige Ensemble aus Dagestan, Takschun: zwanzig Männer in schwarzen Kostümen mit silbernen Dolchen im Gürtel und in der Hand, die virtuos mit ihren Waffen jonglierten, aber trotzdem nach jedem zehnten Säbeltanz mindestens einen Toten auf der Bühne hinterließen, wie der alte Brauch es vorschrieb.
Besonders beliebt beim sowjetischen Publikum war jedoch ein exotischer Sänger aus Jakutien, Kola Beldi. Er kam aus dem äußersten Norden, wo die Menschen das Fell von Seehunden als Tapeten für ihr Zuhause und ihre Rentiere als Fahrzeuge benutzen. Mitte der Siebzigerjahre eroberte Kola Beldi mit seinem Hit »Lass mich dir die Tundra zeigen« alle großen Bühnen des Landes. Seine Gastspiele dauerten Jahre. Unermüdlich sang und tanzte er in sämtlichen Kulturhäusern der Sowjetunion, und überall war er hochwillkommen. Auch ich habe als Kind einmal Kola Beldi in einem Konzert erlebt: Er war ein zierlicher Mann, klein wie ein zwölfjähriger Junge, dazu in eine Nationaltracht aus Nerzfellen eingewickelt, die ihm einige Nummern zu groß war. Außerdem konnte er nicht ruhig auf der Bühne stehen und torkelte ständig herum. Böse Zungen meinten, Kola Beldi sei noch nie in seinem Leben nüchtern gewesen. Viele im Publikum lachten, als der kleine Mann zum
Mikrofon ging. Aber schon nach fünf Minuten herrschte absolute Stille im Saal. Kola Beldi hatte eine kräftige Stimme und war ein begnadeter Akteur: Während des Singens sprang er permanent hin und her, her und hin:
Lass mich dir die Tundra zeigen,
Wo der Schnee schon grau wirkt.
Ich wär so gern ein Bärenfell,
Das zu deinen Füßen liegt.
Durch den Frost und durch den Nebel reiten,
Bis ans Ende der Welt,
Um für immer zu verschwinden
Hinter glattem weißem Feld!
Lass uns rennen, lass uns reiten,
In das tolle Reich des Schnees!
Du wirst staunen, du wirst sehen:
Es ist wirklich wunderschön.
Uhuu!
Jedes Mal wurde sein Hit mit großem Applaus begrüßt. Nicht dass die Zuhörer wirklich mit Kola Beldi in die Tundra reiten wollten, viele waren auch schon mal dort gewesen. Nun waren sie jedoch froh, sich an dieser Reise ausschließlich imaginär beteiligen zu können.
Kola Beldi kam immer gut an. Er besang die Schönheit seiner Schneewüste so glaubwürdig, als wäre sie tatsächlich der erstrebenswerteste Ort der Welt. War er wirklich auf seine Heimat und auf seine Leitkultur so stolz, oder war das eine Widerstandsgeste gegen die Unterdrückung der nordischen Völker? Was waren
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