Karaoke
russisch-deutschen Partys auffallt. Die Russen fangen nach der zweiten Wodkarunde mit den altbewährten Volksliedern an: »Wenn ich sterbe, wenn ich sterbe« und »Schwarzer Rabe, du kriegst mich nicht«. Danach hören sie nicht mehr auf. Die Deutschen schauen die erste Stunde interessiert zu, versuchen dann, nach der vierten Runde, einen Gegengesang zu organisieren, verlieren sich aber stets
in internen Auseinandersetzungen: Die Wessis wollen »Die Gedanken
sind frei« singen.
»Scheiß Christenlied!«, regen sich die Ossis auf und schlagen stattdessen den »Kleinen Trompeter« vor.
Warum nicht gleich die »Internationale«?, kontern die Wessis.
»Singt doch: >O du lieber Augustin««, versuchen ihnen die Russen zu
helfen und machen dadurch alles nur noch schlimmer. Dieses Lied war
in der Sowjetunion durch die vielen Kriegsfilme bekannt geworden, in
denen deutsche Soldaten Mundharmonika spielten und dazu »O du
lieber Augustin« pfiffen. Die Deutschen von heute spielen keine
Mundharmonika und wollen »O du lieber Augustin« nie gehört haben.
Nach der achten Runde sind die Deutschen endlich so weit: Sie versuchen »Kein schöner Land« zu singen, ohne jedoch mehr als die erste
Strophe zu kennen. Dann Reinhard Meys »Über den Wolken«, aber
wieder fehlt die zweite Strophe — vollkommen aus dem Volksbewusstsein gelöscht. Die heiseren Russen fangen an, hämisch »O Tannenbaum« zu grölen. Aber auch dort fehlt eigentlich der gesamte Text, der
über den Titel hinausgeht. Nach der zehnten Runde kommen die Deutschen zum erstaunlichen Ergebnis, dass alle ausgerechnet »Marmor,
Stein und Eisen bricht« auswendig kennen, aber es total peinlich finden.
Am Ende singen alle zusammen Bob Dylan: gutes altes Liedgut aus
dem unterdrückten Amerika, eine unendliche Schleife von »Blowing in
the Wind«:
How many songs have gone front our head,
And how many more should we forget?
The answer, my friend,
The answer, my friend,
The answer, my friend, I have forgotten...
Wo waren wir stehen geblieben? Ich vergesse in der letzten Zeit so viel
— angeblich eine alte Musikerkrankheit, unter der neuerdings auch DJs
zu leiden haben. Von meinem Lieblingsarbeitsplatz in der Küche aus ist
ein Riss an der Decke zu sehen. Er fängt am Fenster an und zieht sich
parallel zur Wand bis an die Ecke, wo der Kühlschrank steht. Ich wollte
ihn mir schon vor Jahren immer mal näher ansehen, habe es aber jedes Mal vergessen, weil meine Frau mir immer gerade irgendetwas Interessantes zu erzählen hatte, wenn wir in der Küche saßen. Ihre Geschichten lenkten mich vom Riss ab und davon, dass wir dringend die Küche renovieren müssten. Oft vergaß ich sogar, was mir meine Frau gerade erzählt hatte. Dann klatschte sie in die Hände und rief: »Hallo, ist da jemand? Und was habe ich gerade erzählt?«
»Dass gestern bei der Geburtstagsparty, dort hatte jemand, also eine Frau. ein grünes Kleid?«, wiederholte ich fleißig.
»Falsch«, antwortete meine Frau.
»Okay, ein rotes Kleid!«
»Und weiter?«, hakte sie nach.
Nichts weiter. Aber ich hatte zugehört — das Erzählte nur eben vergessen. Nicht die Rückenschmerzen, die Vergesslichkeit ist die wahre Epidemie. Sie wird mit einer ständig wachsenden Zahl von Denkmälern, Mahnmalen und Museen bekämpft, mit Fotografie, bildender Kunst und Literatur. Aber vergeblich. Man vergisst trotzdem alles.
Lange Zeit nutzte ich meine Geschichten als eine Art Denkzettel fürs Leben, zum Beispiel um mich an Orte zu erinnern, die ich besucht hatte. Aber auch das half nichts. Jedes Mal, wenn ich irgendwo landete, wo ich noch nie gewesen war, kamen Menschen auf mich zu, die ich noch nie gesehen hatte. Sie klopften mir auf die Schulter und riefen: »Hallo, Wladimir! Kennst du uns noch? Hier, vor zwei Jahren? Stephan und Bambi! Wir haben ein Interview mit dir gemacht über russische Musik, wo du uns etwas über Bob Dylan erzählt und dabei so blöde aus der Wäsche geguckt hast!«
In solchen Fällen gehe ich auf Nummer Sicher: Ich umarme Stephan und Bambi, schüttle ihnen die Hände und sage: »Klar doch, Mensch, hier, vor zwei Jahren!«, und dabei überlege ich fieberhaft, wer von den beiden Stephan sein könnte.
Ein alter Freund von mir, der als Psychotherapeut tätig ist, meinte dazu, diese Erinnerungslücken wären eine natürliche Reaktion des Gehirns auf zu viele Kontakte, eine Schutzmaßnahme des Organismus. Ich glaubte nicht daran, denn diese Schutzmaßnahme erreicht eigentlich
das Gegenteil:
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