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Karaoke

Titel: Karaoke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kaminer Wladimir
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von der russischen Musik ist verrutscht. Der Mann ist ganz offensichtlich folkloregeschädigt. Und mit Folklore ist nicht zu spaßen, sie ist keine Musik, sie ist eine Wissenschaft. Leider sind die Repräsentanten in ihren Heimatländern oft unbekannt. So wie zum Beispiel die ganzen Don-KosakenChöre, die es in Russland gar nicht gibt, oder umgekehrt die Bavarian- Biersänger, die man hier in keinem Musikladen findet, die dafür aber in meiner Heimat als deutsche Folklore schlechthin überall in den Regalen liegen.
    In jedem Land ist die Folklore eine Ehrensache des Südens. Deswegen ist in Deutschland hauptsächlich Bayern für die Folklore zuständig. Dort ist es warm, die Männer laufen das ganze Jahr über in kurzen Lederhosen herum, und die Frauen haben nichts unterm Dirndl an — eine spaßorientierte Gegend. Oft setzen sich dort Menschen zusammen und jodeln bis nach Mitternacht. Das wird vom öffentlich-rechtlichen Fernsehen mitgeschnitten und als folkloristisches Lustspiel am Wochenende weltweit ausgestrahlt. Sendungen wie Die singenden Niedersachsen oder Das tankende Mecklenburg sind mir dagegen noch nicht begegnet. Im russischen Süden, in Krasnodar, wo die wahren Kosaken leben, sind die Lieder auch feurig und zum Tanzen animierend. Die Balalaikas haben
    dort nicht drei und nicht vier, sondern sechs Saiten und werden jedes Mal aufwändig gestimmt. Aber schon etwas nördlicher wird die Musik monotoner, langweiliger und die Texte immer tragischer. Die Balalaikas haben dort nur drei, manchmal zwei oder sogar nur noch eine Saite, und sie werden überhaupt nicht mehr gestimmt. Noch nördlicher, wo der Winter zehn Monate dauert und die Katzen wie Hunde bellen, werden die Balalaikas durch einen Holzlöffel ersetzt und die Melodien auf eine Note reduziert. Dafür aber werden die Balladen immer länger.
    Im Winter haben die Menschen im Norden viel Zeit. Sie besingen ihre Überlebenskunst. Die typische Fabel eines solchen Liedes lautet: Der kinderreiche Familienvater steht in seinem leeren Pferdestall und überlegt: Das Pferd ist längst aufgegessen, also muss er entweder seine Frau oder die Kinder töten. Anders als in dem bekannten deutschen Märchen Hänsel und Gretel entscheidet sich der russische Mann immer für die Kinder und schickt lieber seine Frau in den Wald. »So 'ne Fraaaau finde ich noch, aber solche Kinder nicht!«, singt er. Mit solch wahrer Folklore kann kein Land auf dem internationalen Parkett eine gute Figur machen. Deswegen ist die russische Folk-Schublade in den Musikgeschäften immer die kleinste. Bisher hat auch nur ein einziges russisches Lied im Westen große Karriere gemacht, und das auch nur deswegen, weil es falsch übersetzt wurde. Das Lied »Those Were The Days« oder auf gut Deutsch »An jenem Tag« war überall in den Charts und wurde mittlerweile in mehr als zwanzig Sprachen übersetzt. John Lennon, Luciano Pavarotti und Freddy Quinn haben es gesungen. In Amerika, England und Frankreich machte dieses Lied aus Betty Page, Dalida und Mary Hopkins große Popstars. Speziell in Deutschland waren es unter anderem Alexandra, Paola und Peter Alexander. Das Lied wurde schon mal als Rap, als Countrysong, als finnischer Tango, als Rock 'n' Roll und als Tiroler Gesang präsentiert. Und das nur, weil alle dachten, »An jenem Tag« sei eine fröhliche Liebesschnulze:
    An jenem Tag, mein Freund, Die Welt war wunderbar, Die Zeit blieb stehn, allein nur für uns zwei, Doch eh wir nachgedacht,
    Und alles wahr gemacht,
    Da war der Tag für uns schon längst vorbei
    Leileileileilala Lalalaleilalei Lalalalalalalalalalaa
    In Wirklichkeit sind die Angaben auf den zahlreichen Covern aber nicht korrekt. Das Lied »An jenem Tag« ist gar kein Volkslied und auch nicht von Gene Raskin, der es nur falsch ins Englische übersetzte. Zwei Männer, Boris Fomin und Konstantin Podrewskij, haben dieses Lied, das in der ursprünglichen Fassung »Der lange Weg« heißt, an einem kalten Winterabend vor achtzig Jahren geschrieben. Sie froren sehr und starben früh. Und ihr Lied ging so:
    An jenem Tag, mein Freund, sind wir aufgewacht So gegen Abend, um sieben, halb acht, Der Teufel hatte schon Laternen angemacht, Wir standen auf, haben nachgedacht, Was haben wir denn gestern falsch gemacht? Wir sollten alles dringend ändern! Verpenntes Leben, Wartezeit vorm Sterben, Das Ganze hier wird doch böse enden! Verfluchte Scheiße, finstere Nacht... Leileileileilala Lalalaleilalei Lalalalalalalalalalaa...
    Heute hat die

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