Karin Schaeffer 03 - Die stumme Zeugin
Augen davor verschließen. Es wird nur noch schlimmer, wenn du nicht -«
»Vergiss es.«
»Lass mich ausreden.«
»Nein«, entgegnete er und marschierte einfach Richtung Boerum Place.
Ich stand einfach nur da und schaute ihm hinterher. Er wohnte in Park Slope, zu Fuß gerade mal zwanzig Minuten von hier entfernt. Da er mir deutlich zu verstehen gegeben hatte, dass er allein sein wollte, folgte ich ihm nicht. Auf dem Heimweg hatte ich noch eine Besorgung zu erledigen: Gestern hatte ich für meine Mutter ein Rezept eingelöst und versprochen, ihr heute das Medikament vorbeizubringen. Bevor ich mich umdrehte und in die entgegengesetzte Richtung ging, bemerkte ich, wie Billy den Zettel in seine Hosentasche steckte. Dass er ihn nicht wegwarf, wertete ich als positives Signal, auch wenn dies noch lange nicht bedeutete, dass er meinen Ratschlag befolgen würde.
* * *
So weit das Auge reichte, war die Court Street weihnachtlich dekoriert; die aufgehängten leuchtenden Sterne und Schneeflocken schmückten die Straße von November bis Januar. Die Weihnachtsdekorationen versetzten mich stets in gute Laune. Schon nach ein paar Blocks stieg mir der wohlriechende Tannenduft von den Weihnachtsbäumen in die Nase, die vor einer Drogerie verkauft wurden. Und wie jedes Jahr hatte hier eine kleine Gruppe französisch sprechender Kanadier ihr Lager aufgeschlagen, die aus dem hohen Norden ganze Lastwagenladungen von Tannen nach New York brachten und bis Heiligabend feilboten. Da wir die Feiertage dieses Jahr bei meinem Bruder in Los Angeles verbringen wollten, hatten wir beschlossen, auf einen Baum zu verzichten; doch da ich wusste, wie viel Freude ein Baum Mac bereiten würde, änderte ich kurzerhand unsere Entscheidung.
Ich zeigte auf eine zwei Meter hohe Tanne mit silbrig grünen Nadeln, die ganz wunderbar duftete. »Wie viel?«
»Siebzig Dollar«, verkündete der junge Mann im schwarz-rot karierten Flanellhemd mit einem starken französischen Akzent.
»Ich gebe Ihnen fünfzig.«
»Tut mir leid, Ma’am. Ich kann auf fünfundsechzig runtergehen, aber mehr ist nicht drin.«
»Fünfundfünfzig, weil Sie mich Ma’am genannt haben.«
»Sechzig.«
»Einverstanden.«
Ich bezahlte und vereinbarte, dass der Baum am nächsten Morgen geliefert wurde. Nachdem ich bei Blue Marble für meine Mutter einen Becher Himbeereis, ihre Lieblingssorte, gekauft hatte, marschierte ich in Richtung Kane Street, wo sie wohnte. Seit Mutter an Arthritis litt, sahen wir sie eher selten. Daher vermisste ich sie oft, und heute ganz besonders. Die sieben Blocks zu uns im Auto oder gar zu Fuß zurückzulegen war für sie äußerst problematisch. Wie sie die bevorstehende Flugreise nach L. A. bewältigen wollte, war mir ein Rätsel, aber sie hatte mir versichert, dass alles gutgehen würde, zumal der Arzt versprochen hatte, ihr ausreichend Schmerzmittel mitzugeben. Wir hatten den Weihnachtsurlaub geplant, bevor sich ihre Arthritis verschlimmerte, und meine Schwägerin Andrea war aufgrund ihrer Schwangerschaft nicht in der Verfassung zu reisen. Den Gedanken, Weihnachten allein in New York zu verbringen, hielt meine Mutter für vollkommen abwegig.
Meine Mutter lebte im Erdgeschoss eines Sandsteinhauses unweit vom Tomkins Square. Die Gegend war ruhig und grün – nur nicht im Winter. Jetzt erinnerten die nackten, ineinander verschränkten Äste der mächtigen alten Bäume an filigranes graues Gitterwerk; und der helle Mond verlieh der Straße einen seltsamen Glanz. In dem Moment musste ich an Abby Dekker denken. Ich setzte mich auf die nächste Treppenstufe und vergoss ein paar Tränen, was ich auf meine Übermüdung schob. Mit der Hand trocknete ich mein Gesicht, stand wieder auf und ging weiter, bis ich das Haus meiner Mutter erreichte. Ich sperrte mit meinem Schlüssel zuerst das Eisentor und danach die Haustür auf.
»Hallo!«, rief ich, kaum dass ich die Wohnung betreten hatte, damit sie sich nicht erschreckte.
Sie schaltete umgehend im Wohnzimmer die Lautstärke des Fernsehers herunter.
»Karin, bist du das, Liebling?«
»Tag, Mom.« Mantel und Tasche legte ich auf den Stuhl neben der Eingangstür, schaltete das Licht ein und ging mit der Tüte von Blue Marble den Flur hinunter, durch den man in ihr Schlaf- und Wohnzimmer sowie in die Küche gelangte. Von der Küche aus kam man in einen großen Hinterhof, den sie allein benutzen konnte und der den Ausschlag für die Anmietung dieses Apartments gegeben hatte.
Sie saß auf der einzigen
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