Karin Schaeffer 03 - Die stumme Zeugin
krakeliger Kinderschrift; und in einer Ecke schwebten ein paar Ballons unter der Decke. Die reglos auf dem Bett liegende Abby bekam von all dem nichts mit.
»Ja, ich bin schon vor neun gekommen und habe ihr laut vorgelesen«, berichtete der Geistliche.
Sasha warf einen Blick auf das aufgeschlagene Buch, das auf einem Stuhl lag. »Die Zeitfalte. Das war eins meiner Lieblingsbücher in meiner Kindheit.«
»Ist heute noch so aktuell wie damals«, meinte Pater X. »Es heißt ja, dass Menschen, die im Koma liegen, hören können. Und da dachte ich mir, das Vorlesen würde vielleicht etwas bewirken.«
Sasha lächelte. »Na, es kann jedenfalls nicht schaden.«
Billy und ich blieben ein, zwei Schritte vor dem Bett stehen und betrachteten die Kleine. Ihre Wunden verheilten langsam, und die anfangs blauen Flecken hatten sich gelbgrün verfärbt. Sie wirkte jetzt dünner und blasser. Ihre Hände lagen schlaff neben dem Körper, und der blaue Nagellack wirkte so frisch, als sei er eben erst aufgetragen worden. Wie würde sie es wohl aufnehmen, wenn sie erfuhr, dass sie fortan bei den Campbells lebte? Würde sie irgendwann darüber hinwegkommen, dass sie eine Waise war – und falls ja, wann?
Abby und Dathi – beide Mädchen waren innerhalb von vierundzwanzig Stunden zu Vollwaisen geworden. Obwohl ich beide eigentlich gar nicht kannte, hätte ich plötzlich viel darum gegeben, mit ihnen sprechen zu können. Als Mutter, die zwei Töchter verloren hatte, konnte ich ihren Verlust durchaus nachempfinden. Im Grunde genommen konnte die Leere in unserem Leben kein anderer füllen – sondern nur diejenigen, die von uns gegangen waren. Und die Sehnsucht, sie wiederzusehen, versiegte nie.
Während unsere Blicke auf Abby ruhten, die tief schlief und sich nicht rührte, wurde Billy von seinem eigenen Leid heimgesucht.
KAPITEL 10
Am Dienstagmorgen stand Billy in aller Herrgottsfrühe im Flur, und trotz geschlossener Haustür konnte man deutlich sehen, dass kleine Atemwolken aus seinem Mund aufstiegen. Seit nunmehr zwei Jahren ging er zweimal wöchentlich mit Mac zum Basketball, und immer trug er das gleiche Outfit: eine graue Jogginghose und uralte Turnschuhe. Während er auf Mac wartete, der unten mit seiner neuen Assistentin Star redete, die sich verspätet hatte, lief Billy auf der Stelle, um sich aufzuwärmen.
»Hoffentlich dauert das nicht ewig. Sie hat erst gestern angefangen und weiß noch nicht genau, was zu tun ist.« Ich neigte mich zu ihm hinüber und fügte mit leiser Stimme hinzu: »Unter uns gesagt, wirkt sie ein bisschen unzuverlässig.«
»Hast nicht du das Einstellungsgespräch geführt?«
»Ups.« Ich zuckte mit den Achseln. »Lust auf einen Kaffee, bis Mac fertig ist?«
Er warf einen Blick auf seine Uhr. »Nein danke.«
»Lass uns wenigstens ins Wohnzimmer gehen und uns setzen.«
Er folgte mir in den angrenzenden Raum und blieb in der Zimmermitte stehen. Ich machte es mir auf dem Sofa bequem, wo mein Laptop lag. Bevor Billy aufgekreuzt war, hatte ich im Netz nach einem neuen Babysitter gesucht. Mir war immer noch schleierhaft, wie ich Ben die Neuigkeiten beibringen sollte, ohne ihm das Herz zu brechen. Bislang hatte ich ihn mit der Ausrede abgespeist, Chali könnte vorerst nicht mehr zu uns kommen, woraufhin er mich bat, sie sofort anzurufen. Mir fiel nichts anderes ein, als schnell das Thema zu wechseln. Da diese Strategie augenscheinlich nicht mehr lange funktionierte, mussten wir ihm bald, sehr bald erzählen, dass sie nie mehr kommen würde.
»Was Neues von Dathi gehört?«, fragte Billy.
»Nichts«, antwortete ich knapp, wohl wissend, dass auch er sich sehr um sie sorgte.
»Übrigens, es gibt eine neue Entwicklung in unserem Fall.«
Wie von der Tarantel gestochen richtete ich mich auf. »Wieso hast du mir das nicht gleich gesagt?«
»Entspann dich, ich bin ja gerade dabei, dich einzuweihen. Frauen!«
»Jetzt geht das wieder los.«
»War nur ein Scherz.« Er zuckte mit den Achseln und schenkte mir ein Lächeln.
Ich ließ mich nach hinten fallen und unterdrückte ein Grinsen. »Schieß los, Billy.«
»Gestern Abend ist ein neuer Typ auf dem Radar aufgetaucht: Antonio Neng. Upper East Side, Privatier. Ich muss mich korrigieren: verärgerter Privatier. Neng hat vier Banker, unter anderem Reed Dekker, belästigt.
Bitterböse E-Mails geschrieben und Dekker als ›Bonzenbanker‹ bezeichnet, der ›sein Leben ruiniert hat‹. Und so weiter und so fort. Und Neng hat sich Sonntagabend in Brooklyn
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