Karin Schaeffer 03 - Die stumme Zeugin
zerbrechen, was er mit meinem Geld angefangen hatte.
Sie half mir, den Koffer auf der Rückbank unseres Mini Coopers zu verstauen, ging auf die Fahrerseite und wartete, dass ich die Tür aufschloss. Zuerst fand ich das befremdlich, aber dann fiel der Groschen.
»Dathi, der Fahrer sitzt links, und wir fahren auf der rechten Straßenseite.«
Sie grinste und verdrehte die Augen. »Klar doch. Wie dumm von mir! Omi hatte Brennpunkt Brooklyn auf Video, und ich habe mir zig Mal vorgestellt, wie ich mit Popeye Doyle in seinem alten Wagen sitze.«
Dass sie den Film so gut kannte, verwunderte mich. »Sprichst du von dieser Verfolgungsjagd unter der Autobahnbrücke?«
»Ja! In Brooklyn. Dass ich nach Brooklyn komme, finde ich ganz großartig.« Sie strahlte mich an, während ich die Beifahrertür aufschloss. Dann setzten wir uns und schnallten uns an.
»Weißt du«, erläuterte ich, während ich gemächlich vom Parkplatz rollte, »Popeyes Wagen war zu jener Zeit, als der Film gedreht wurde, gar nicht alt. Seit damals hat sich viel verändert.«
»Selbstverständlich.« Sie schaute aus dem Fenster und saugte alles, was sie wahrnahm, begierig in sich auf: die vielen Fahrzeuge, die von Menschen unterschiedlicher Nationalität gesteuert wurden, die breiten Straßen, die zu dem riesigen Flughafen führten, den konstanten Flugzeuglärm. »Vierzig Jahre sind seit Doyles Abenteuer in diesem eigenartigen, rostfarbenen Wagen vergangen.«
»Rostfarben?«, fragte ich. »Ich dachte immer, er wäre rot.«
»Dann einigen wir uns auf rostrot, ja?«
Wir brachen in schallendes Gelächter aus. In dem Moment merkte ich, dass etwas Wundervolles passierte, gerade so, als wären wir Hand in Hand wie Alice im Wunderland durch einen Spiegel gesprungen.
»Einverstanden«, sagte ich.
»Ich habe das Video in meinen Koffer gepackt«, verkündete sie. »Wir können uns den Film ansehen und rausfinden, wer das bessere Gedächtnis hat. Nur weiß ich jetzt schon, dass ich recht habe.« Sie zwinkerte mir so kurz zu, dass ich mir nicht sicher war, ob ich es mir nur eingebildet hatte.
»Wir haben keinen Videorecorder mehr, sondern einen DVD-Spieler. Wir können uns den Film bei Netflix ausleihen. Was hältst du davon?«
»Netflix?«
Ich erklärte ihr, was es damit auf sich hatte. Für Dathi war dies der erste Schritt eines langen Lernprozesses.
»Du stehst also auf Polizeifilme?«, erkundigte ich mich, als ich auf den Van Wyck Expressway einbog.
»Nur auf die guten«, antwortete sie mit einer Ernsthaftigkeit, die bei einem Mädchen ihres Alters ganz reizend war. »Ich interessiere mich vor allem für den Film noir jener Zeit. Klute und Chinatown finde ich richtig super, aber ich kenne noch nicht alle Streifen.«
»Die kennt keiner«, meinte ich, »oder fast keiner. Doch wir können daran arbeiten.«
»Werde ich denn bei dir wohnen?«
Ich sah eine ganze Weile lang zu ihr hinüber, ehe ich mich wieder auf den Verkehr konzentrierte.
»Ja.« Meine Zusage löste bei mir jene Art von Schwindel aus, der einen bei einem Sprung von einer hohen Klippe überkommt. Weder kannte ich die gesetzlichen Bestimmungen, die die Adoption eines ausländischen Kindes regelten, noch war geklärt, ob Mac sich auf dieses Unterfangen einließ. Was, wenn es sich hierbei tatsächlich um Kidnapping handelte? Dies war ein erster Schritt auf einem langen Weg, der uns überall hinführen konnte. Morgen würde ich mich ans Telefon hängen, mich schlaumachen und, falls nötig, einen Anwalt engagieren.
»Wo ist meine neue Schule? Kann ich da zu Fuß hingehen? Oder muss ich den Bus nehmen? Oder vielleicht sogar mit dem Rad fahren?«
Spielte meine Phantasie mir einen Streich, oder leuchteten ihre Augen wirklich auf, als sie »Rad« sagte? Sie stellte mir Fragen über Fragen in einem Tempo, das mich überforderte. Eines war mir inzwischen klar: Ich hatte es hier mit einem ganz außergewöhnlichen Kind zu tun. Der Gedanke, dass Dathi auf den Strich ging, erschien nun noch absurder und abwegiger. Im Geiste überlegte ich schon, welchen Beruf sie einmal ergreifen würde: Forscherin, Diplomatin, Vorstandsvorsitzende. Ich ermahnte mich, nicht zu weit in die Zukunft zu denken. Alles zu seiner Zeit. Jetzt brauchte sie erst mal einen Wintermantel.
* * *
Kaum betraten Dathi und ich den Flur, rief Mac von oben: »Hast du daran gedacht, den Wagen waschen zu lassen?«
»Müssen wir noch mal los?«, fragte mich Dathi.
»Das ist nur mein Mann«, verriet ich ihr kopfschüttelnd.
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