Karl der Dicke beißt sich durch
absteigen.
Am Abend konnte Karl lange nicht einschlafen. Er dachte immerfort an Teresa und versuchte sich ihr Gesicht vorzustellen. Aber das wollte und wollte ihm nicht gelingen. Stets verschwamm das Bild, bevor es noch recht deutlich war, oder gewann Ähnlichkeit mit anderen Personen. Da nahm er ein Schreibheft und seinen Füller aus der Schultasche und versuchte es mit Worten zu bannen.
„Ich liebe Teresa, denn sie ist wunderbar“, schrieb er und fand diesen ersten Vers so gelungen, daß es ihn heiß überlief. Darum machte er sich mit zitternder Ungeduld an das Schmieden weiterer Reime. „Ihr Haar, so schwarz wie Kohle“, dichtete er. Aber auf ,Kohle’ wollte ihm außer ,Sohle’ und ,Mole’ kein Reim einfallen, und die ließen sich mit Teresas Haar in keinen sinnvollen Zusammenhang bringen. Kurzentschlossen änderte er den Vers um und schrieb: „Ihr Haar ist schwarz wie ‘n Rabe.“ Doch nach kurzem Nachdenken fand er, daß auch das ein unpassender Vergleich sei, stellte sich doch bei dem Wort ,Rabe’ sofort ein Bild von Winter, Hunger und Kälte ein, und damit hatte Teresa nichts zu tun. Sosehr er nun grübelte und probierte, mit den Haaren Teresas wollte ihm nichts gelingen. Da wandte er sich erst einmal ihrer Haut zu, über die sich ja auch einiges sagen ließ. Und siehe da, mit der ging es ihm viel leichter von der Hand.
„Sie hat so weiße Haut, daß man sie gern anschaut“, schrieb er. Das war auf alle Fälle ein guter Reim, denn besser als jHaut 1 und ,schaut 1 konnte sich nichts reimen. Außerdem stimmte die Aussage ohne jede Übertreibung, also war der Vers reine Dichtung. Ihm kam es allerdings so vor, als ob mit dem Rhythmus etwas nicht ganz stimmte, aber darüber setzte er sich hinweg.
Entschlossen dichtete er weiter.
„Die Nase ist so klein und immer, immer rein.“
Hm, dachte er, das stimmt zwar und reimt sich auch ausgezeichnet, aber hohe Dichtung scheint es wohl doch nicht zu sein, vielleicht deshalb nicht, weil sich bei der Liebsten die Reinlichkeit der Nase von selbst versteht. Also ein anderes Reimwort gesucht!
In Gedanken ging er das ganze Abc durch und nahm die Wörter ,allein“, ,dein’, ,fein’, ,mein’, ,Pein’, und ,Wein’ in die engere Wahl. Nach vielem Hin- und Hergeschiebe kam er über den Vers „Das hübsche Näschen klein gehört dir ganz allein“ zu dem großartigen „Ihr Elfennasenbein ist zierlich, klein und fein“. Beglückt schrieb er das bisher Gedichtete in Reinschrift ab und las es sich selbst gefühlvoll vor:
„Ich liebe Teresa.
Sie ist so wunderbar.
Sie hat so weiße Haut,
daß man sie gern anschaut.
Ihr Elfennasenbein
ist zierlich, klein und fein.“
Wenn das nicht einmalig war! Karl legte sich ins Kissen zurück und feierte sich selbst als großen Dichter. Als er jedoch sein Werk zum drittenmal las, stolperte er über das Nasenbein. Nein, das mußte weg, das klang so nach Biologie, nach Schienbein, Wadenbein und so. Aber durch welches Wort sollte man es ersetzen, wenn man weder auf die Elfe noch auf ,klein’ und ,fein’ verzichten wollte?
Karl schloß die Augen und dachte nach.
Darüber schlief er ein. Das Heft rutschte von der Bettdecke auf den Fußboden, der Füller fiel daneben.
Am nächsten Morgen verschlief er.
Als es seiner Mutter endlich gelungen war, ihn wachzurütteln, hatte er keine Zeit mehr, sein Liebesgedicht zu lesen. Hastig warf er Heft und Füller in seine Schultasche, nahm eine mit Leberwurst bestrichene Doppelstulle in die Hand und lief aus dem Haus.
In der dritten Stunde, im Englischunterricht, schrieben sie einen Test, ein Übungsdiktat. Als sie damit fertig waren, mußten sie die Hefte austauschen und gegenseitig korrigieren. Der Lehrer schlug die Tafel um, auf der nun der Text in der richtigen Schreibweise zu sehen war. Dabei bekam Egon, der vor Karl allein am Tisch saß, im Ringtausch Karls Heft mit dem Liebesgedicht in die Hand. Er blätterte darin, um Karls Niederschrift zu finden, und stieß ganz zufällig auf die glutvollen Verse seines Freundes. Neugierig begann er sie zu lesen. Über Karls Bekenntnis, daß er Teresa, die wunderbare, liebte, glitt er zügig hinweg, bei der weißen Haut, die man so gern anschaut, kam er aus dem Tritt und stolperte leicht, aber bei dem Elfennasenbein, das ihm unvermittelt zierlich, klein und fein entgegenleuchtete, bekam er einen Erstickungsanfall vor Lachen und beruhigte sich erst, nachdem der ahnungslose Karl ihm mehrmals kräftig auf die Schulter geschlagen
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