Karl der Dicke & Genossen
unten bleiben und uns mal so richtig erholen von den Strapazen der letzten Tage. Es ist doch ideal hier. Wasser vor der Tür, Sonne überm Dach und Fressalien im Rucksack. Wenn alles aufgegessen ist, fahren wir weiter.“
Guddel war auch einverstanden.
„Ich muß eine ganze Menge schreiben“, sagte er. „Das könnte ich hier gut machen. Onkel Edu braucht neuen Stoff, damit er mit dem Honorar überkommt. Wenn ich richtig mitgerechnet habe, hast du nicht mal mehr achtzig Mark im Portemonnaie, Karl, stimmt’s?“
„Es stimmt“, sagte Karl. „Und ich finde es sehr lobenswert, daß du arbeiten willst, während wir uns von der Sonne bescheinen lassen.“
„Er kann sich ja beim Schreiben auf den Bauch legen“, schlug Egon vor, „so kriegt er auch ‘ne Handvoll Strahlen ab.“
„Genau das hab’ ich vor“, sagte Guddel.
Er breitete seine Wolldecke aus, verstreute einiges Papier um sich und fuhr im Geiste den Weg der letzten Tage noch einmal. Karl und Egon wuschen das Geschirr ab und legten sich dann faul auf den Rücken. Sie genossen die heiße Sonne auf ihrer Haut, räkelten sich behaglich und fühlten sich unsagbar wohl.
Guddel aber schrieb Zeile um Zeile und Blatt um Blatt. Alserein Gedicht über den Rattenfänger von Hameln verfaßte, stand Karl träge auf und sah ihm eine Weile zu. Das störte Guddel.
„Komm, Kleiner“, sagte er, „geh schön spielen, Papa muß ein Gedicht über den bösen Rattenfänger machen.“
„Mensch, nun gib nur nicht so an“, empörte sich Karl. „So ‘n paar lächerliche Verse schmeiß ich in drei Minuten aufs Papier.“
Guddel schob ihm einen Bogen und einen Bleistift zu. „Hier“, sagte er, „fang an zu schmeißen! Aber bitte dahinten, damit mir die Brocken nicht um die Ohren fliegen.“ Karl nahm die Schreibutensilien auf und entfernte sich. Guddel war froh, den Störenfried los zu sein, und kam gut voran mit seinem Gedicht. Als er noch an der letzten Strophe feilte, trat Karl wieder in seinen Gesichtskreis. Stolz wedelte er mit dem Papier in der Luft herum.
„So, mein Lieber“, rief er, „jetzt sollst du mal hören, was ich so mit links zusammenreime. Das ist ganz große Kunst. Spitz die Ohren, Egon, da gibt es ‘ne Menge zu lernen!“ Guddel stand auf, machte einige Rumpfbeugen, um seine Rückenmuskulatur zu entspannen, und hockte sich dann neben den Sonntagsdichter.
„Also“, sagte er, „beginne! Das Publikum hat die Ohren bereits auf Empfang gestellt.“
Karl räusperte sich übertrieben, machte „Mimi, mama, meng, meng, ning, neng, nong“, wie er es schon von Sängern gehört hatte, und begann seinen Vortrag:
In Hameln am Rhein,
da hatten’s die Ratten und Mäuse fein.
Sie konnten piepen und schrein.
Und wenn sie nicht mehr wollten, ließen sie’s sein.
Sie wären auch in Hameln geblieben,
aber die Bürger, die taten sie nicht lieben
und hätten sie gerne vertrieben
oder erschlagen mit Hieben.
Die Ratten, die war’n unverfroren.
Sie fraßen selbst von den Babys die Ohren.
Da riefen die Bürger: „Wir Toren!
Ein Rattenfänger muß her, sonst sind wir verloren!“
Der Rattenfänger vernahm diese Kunde,
als er fröhlich spazierenging mit seinem Hunde.
Er schwang sich auf sein Pferd noch zur selbigen Stunde und machte mit der Flöte durchs Städtchen die Runde.
Die Ratten, die lauschten seinem süßen Gesänge
recht lange,
nicht mal die Mäuse war’n bange.
Der Rattenfänger aber war eine hinterlistige Schlange.
Er führte die Biester nämlich mit Geschick
in die eiskalte Weser, in den dreckigen Schlick.
Da trieben sie alle mit gebrochenem Genick.
Ihr Tod aber war für die Stadt das rettende Glück.
Die Bürger aber waren der Lüge verschworen.
Sie betrogen den Mann über beide Ohren.
„Das Geld“, sagten sie, „das hast du schon! Du hast es wohl verloren!
Wir zahlen doch nicht zweimal! Sind wir denn gar Toren?“
Das brachte den Rattenfänger um sein bißchen Verstand.
Er lockte per Flötenspiel die Kinder der Eltern ganz weit aus dem Land,
wo niemand sie fand
in Wald, Berg und Sand.
Karl ließ das Blatt sinken und blickte triumphierend auf sein Publikum.
„Au, Backe“, sagte Egon, „das war mal was fürs Gemüt! Direkt ergreifend. Aber erlaube einem Laien eine Frage: Seit wann liegt Hameln am Rhein?“
„Das ist dichterische Freiheit“, erklärte der Sonntagspoet. „Ach so“, staunte Egon, „und daß der Rattenfänger auf der Flöte sang, wohl auch,
Weitere Kostenlose Bücher