Karlas Umweg: Roman (German Edition)
müsste. Der alte Kammersänger war aber sehr angetan von mir: »So was Zartes, Schlankes, Junges hatte ich schon lange nicht mehr an meiner Seite«, sagte er. Und dann nahm er die mit Ringen beladene Hand seiner Gattin zur Linken und fügte hinzu: »So ein junges Pflänzchen war sie auch mal, als ich sie zu meiner Frau nahm, vor vielen Jahren. Jetzt ist sie ein welkes Herbstblatt.« Die Gattin aß ungerührt weiter. Sie war zugegebenermaßen schon über sechzig, aber ich hatte nicht gewusst, dass es ein Vorrecht der Männer ist, das Altsein an sich selbst zu ignorieren. Ich starrte ihn fassungslos an. Er war nämlich mindestens eine knochige hölzerne Wurzel, wenn nicht ein kahler magerer Ast. Ich konnte es nicht fassen, dass er so von seiner Frau redete, und dabei noch ihre Hand hielt! Das nur nebenbei. Marie hatte es sowieso nicht mitbekommen. Sie saß zwischen Echtwein und Zurlinde und lieh jedem von ihnen unter dem Tisch einen Fuß. Sie ist kein welkes Herbstblatt. Sie ist eine unbeschreiblich schöne, langstielige rote Rose. Und ich bin ein Fleißiges Lieschen, das in ihrem Schatten wächst.
Mein gestriger Eintrag war vielleicht etwas melancholisch. Ich hatte aber auch allzu viel Wein getrunken da droben im Dachrestaurant, weil ich sonst diese Atmosphäre der Selbstbeweihräucherung alternder Diven und Stars von gestern nicht ertragen hätte. Sie waren allesamt so schlimm wie Erna Pfefferkorn, auch wenn sie tatsächlich mal berühmte Größen gewesen sein mögen. Ich, Karla Umweg, die kleine Blätterfrau, war natürlich ein Niemand. Bis auf den alternden Kammersänger schenkte mir keiner Beachtung und darauf hätte ich auch verzichtet. Nur zu gern wäre ich gegangen, aber ich hatte die Verantwortung für Marie und musste ihr am Schluss den väterlichen Zurlinde vom Leib halten, weil sie sich diesmal, zur Feier des Tages, noch von Echtwein in der Tiefgarage im Kastenwagen verabschieden wollte. Schließlich war er das Geburtstagskind. Wie sich herausstellte, hatte Zurlinde viel zu viel getrunken, um noch alleine heimfahren zu können. Deshalb musste ich ihn wie einen Jungen am Ärmel packen und nach unten auf die Straße geleiten. Am Taxistand fing er an zu lamentieren, er hätte irgendwas vergessen abzugeben, aber er wüsste nicht mehr was.
Der Taxifahrer fragte ungeduldig: »Soll es jetzt losgehen oder sollen wir hier Wurzeln schlagen?«
Ich schob Zurlinde in das Taxi und stopfte noch seinen langen Schal und seinen Mantelzipfel hinterher und fragte ihn: »Wo wohnen Sie denn?«
»Ich hab noch was vergessen abzugeben«, sagte Zurlinde.
»Was wollen Sie denn abgeben?«, fragte der Taxifahrer gereizt. »Wenn Sie sich übergeben müssen, dann aber nicht in meinem Wagen hier.«
»Er muss sich nicht übergeben«, sagte ich. »Wo wohnen Sie?«, wiederholte ich und schüttelte Zurlinde am Ärmel.
»Mensch, Mädchen, fahr mit, ich hab keine Lust, seine Kotze aufzuwischen«, sagte der Taxifahrer.
Ich stieg ein. Zurlinde sagte ziemlich deutlich seine Adresse und fügte dann hinzu, dass er noch etwas abzugeben hätte.
»Was haben Sie denn abzugeben?«, fragte ich besorgt. Vielleicht drücken Professoren der höheren Künste sich immer so aus, wenn sie kotzen müssen. Vorsichtshalber kramte ich ein Taschentuch hervor.
Der Taxifahrer fuhr los und sagte: »Das können Sie doch zu Hause abgeben, wenn Sie solange noch warten können, guter Mann.«
Zurlinde betonte, dass er das auf keinen Fall seiner Frau geben könne, und dass er sich in große Schwierigkeiten bringen würde. Ich schwieg und hielt mein Taschentuch griffbereit.
»Ich will nur noch vergessen«, sagte Zurlinde.
»Was wollen Sie vergessen?«
»Ich weiß es nicht mehr.« Ja, der war echt durch den Wind, der Mann. Als Zurlinde zu Hause war, zahlte ich das Taxi und geleitete ihn noch bis zum Kiesweg seines Anwesens. Er murmelte nur, dass es Schwierigkeiten geben könnte, wenn seine Frau bemerken würde, dass er etwas bei sich hatte, was er nicht rechtzeitig abgegeben hatte, und schwankte dann beherrscht zu seinem adretten selbst gezimmerten Bungalow hinauf. Ich wartete, bis er im Haus verschwunden war.
Zurück fuhr ich mit der U-Bahn, weil der Taxifahrer schon abgehauen war.
Heute Morgen hat Marie schon um halb acht an meine Tür geklopft. Sie hatte den gewohnten verwegenen Blick drauf und dazu noch ganz viele rote Flecken im Gesicht.
»Karla, wo ist die Handtasche?«
»Welche Handtasche?«
»Na, meine grüne Handtasche, die Zurlinde dir gestern
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