Karlas Umweg: Roman (German Edition)
Koloraturen. Aber genau das schien die Natürliche zu bevorzugen. Sie turnte und hampelte die ganze Zeit während des Singens, lockerte den Unterkiefer, schlabberte mit den Pausbäckchen, streckte die Zunge heraus, rollte mit den Augen und schlenkerte mit den Armen. Ich nahm natürlich an, dass sie das im Ernstfall nicht machen würde, aber genau das tat sie. Sie trat also auf, legte Echtwein die Noten vor die Nase, zu blättern gab es nichts, weil das Ding nur eine Seite lang ist und sich immer wiederholt, trat vor das Klavier und breitete erst mal die Arme aus wie ein Flugzeug. Edwin hatte schon die Finger auf den Tasten, aber ich raunte: »Warten Sie, sie entspannt sich noch.« Die Natürliche wippte dann mit den Füßen, schleuderte ihre Hände aus, als hätte sie in kaltes Wasser gefasst, lockerte ihren Kiefernapparat durch Malmen und Knacken, zog die Schultern mehrmals auf und nieder und legte den Kopf in den Nacken. Marie in der Jury kicherte erfreut und Zurlinde fasste ihr aufs Knie.
»So«, sagte Edwin, »jetzt fangen wir mal an.« Er spielte das Vorspiel, aber die Natürliche war noch lange nicht am Ende mit ihren Gymnastikvorführungen. Sie beugte sich rückwärts über den Flügel, um ihr Zwerchfell zu dehnen, und ihr Busen ragte gegen die Decke. Marie begann lauthals zu lachen.
»Bitte, Fräulein … sind Sie jetzt bereit?«, fragte Zurlinde väterlich, indem er Marie beruhigend auf den Rücken klopfte.
»Sofort«, sagte das natürliche Fräulein. »Wenn ich verspannt bin, kann ich nicht das Letzte geben!« Sie stellte sich wieder gerade hin und schnaubte wie ein überarbeitetes Pferd, um die Lippen zu entspannen. Dann verdrehte sie noch einmal kräftig die Augen, wie jemand, der sich über einen Idioten lustig macht, und sagte dann gnädig: »Jetzt können wir es mal versuchen.«
»Sie wissen ja, dass Sie nur einen Versuch haben«, sagte Zurlinde milde mahnend.
»Ja, ja«, erwiderte sie und machte schnell noch ein paar Liegestütze am Flügel. Echtwein verdrehte die Augen und fummelte nach einer Zigarette. Marie hing, vor Lachen schon ganz schlapp, über Zurlindes rechter Schulter. Die anderen Jurymitglieder räusperten sich. Leider gelang es der Kandidatin während des ganzen Vortrages nicht, mit der Turnerei aufzuhören. Marie krallte sich hilflos an ihre grüne Krokodillederhandtasche, die restlichen Jury-Mitglieder hielten sich an ihren Stühlen fest oder suchten angestrengt in ihren Akten nach Notizen, um ihre Gesichter zu verbergen, und Zurlinde hielt seine väterlichen Hände vors Gesicht, sodass man nur noch seine Augenbrauen zucken sah. Ich selbst hatte die Vorstellung ja schon im Einsingeraum erlebt, weshalb es mir gelang, völlig ernst zu bleiben. Edwin jedoch ließ sich ebenfalls aus der Fassung bringen: als er Marie so hilflos lachen sah, stierte er sie an und ließ seine Finger einfach allein weiterhopsen. Zum Glück ein wirklich leichter Klavierpart. Ich hätte auf jeden Fall einspringen können, falls Echtwein keinen Bock mehr gehabt hätte oder seine ohnehin spärliche Selbstbeherrschung verloren hätte. Leider kam auch die Natürliche nicht in die zweite Runde, wenn auch Marie sich unter Lachtränen ganz entschieden dafür einsetzte.
Erna Pfefferkorn war unbeschreiblich beleidigt, dass ihre Tochter sie dermaßen brüskierte, sprach von künstlerischer Unreife und persönlichen Rachemotiven und drohte mit einer einstweiligen Verfügung, damit dieser nicht objektiv geleitete Wettbewerb abgebrochen werden müsste.
Nach dem ersten Durchgang haben wir noch Edwins Geburtstag gefeiert. Er wurde genau vierzig – ist also um einiges älter als Willem, der demnächst fünfunddreißig wird! – und hat alle Jury-Mitglieder zum Essen eingeladen. Um keinen Ärger zu bekommen, hat Marie mir befohlen, mitzugehen in das Dachrestaurant eines sehr feinen Hotelschuppens. Esplanade heißt der Laden. Von dort oben hat man einen fantastischen Blick über die Stadt.
Ich kam neben einem älteren Kammersänger in Ruhe zu sitzen, der nur noch Ehrenpöstchen innehat wie das Verleihen von Jodeldiplomen und das Voraussagen großer Karrieren. Seine Gattin, eine Musikkritikerin, saß an seiner anderen Seite. Eigentlich wollte ich wegen meiner Abnehmerei überhaupt nichts essen; ehrlich gesagt, ich kann gar nichts mehr essen. Frau Pfefferkorn hatte behauptet, ich wäre mager wie eine Ziege geworden, aber das würde sie nicht verwundern, jetzt wo ich die Familienverhältnisse der von Ottens miterleben
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