Karlebachs Vermaechtnis
mich in seinem Testament bedacht hatte, denn er hatte mir immer mal wieder etwas zugesteckt - für ein gutes Buch oder zum Volltanken. Er wusste, dass ich von dem Honorar der Lokalpost und meinen gelegentlichen Nachtschichten in einer von Fricks Fabriken mehr schlecht als recht über die Runden kam. Deborah, die jüngere der beiden Töchter, öffnete mir die Haustür, noch ehe ich geläutet hatte. »Es ist schön, dass du kommst. Wir haben ja auf Opa Bernhards Beerdigung gar nichts miteinander geredet.«
»Die Umstände waren eben nicht so.« Ich zog meine Schuhe aus und stellte sie an den vorgesehenen Platz. Deborah bat mich ins Wohnzimmer.
»Bin ich etwa zu spät?«, fragte ich mit Blick auf die Reste einer Sahnetorte auf dem Esstisch.
Sie bot mir ein Stück an. Ich lehnte dankend ab. Allein beim Gedanken an Heiligs voluminösen Sahnekuchen wurde mir übel.
»Wie geht es dir denn? Macht dir dein Studium noch Spaß? Setz dich doch erst einmal! Möchtest du lieber einen Kaffee oder einen Tee?«
Hoffentlich ist die bald ruhig, dachte ich und knallte mich aufs Sofa. »Was macht denn weniger Mühe?«, fragte ich. »Tee.«
»Dann koch mir einen Kaffee.« Ich schaute mich im Wohnzimmer um, während Deborah in der Küche unaufhörlich weiterplapperte. Ich hatte die Heiligs schon lange nicht mehr besucht, aber es hatte sich in den Jahren nichts verändert. Die Einrichtung zeugte von einem gediegenen Wohlstand: eine dunkelbraune Schrankwand, eine Ledergarnitur, ein Eichentisch zum Ausziehen, an den Wänden Bibelsprüche und Familienbilder. Alles war penibel aufgeräumt. Heile Welt. Ich erhob mich und sah mir die Fotos genauer an. »Ganz schön in die Breite gegangen«, rief ich in die Küche.
»Wer?«
»Na, du und deine Schwester.«
Deborah stürzte aus der Küche. »Du bist ja richtig gemein!«
»Tja«, sagte ich, »die Welt ist eben schlecht.« Deborah schien den Tränen nahe.
Ich quälte mich zu einem Lächeln. »Der Kaffee ist fertig.«
Deborah eilte in die Küche zurück.
»Wo sind denn die anderen?«, fragte ich.
»Die mussten noch mal in die Stadt zum Notar«, antwortete Deborah. Sie reichte mir den Kaffee und setzte sich in einen Sessel.
»Wieso denn das?«
Deborah zuckte mit den Achseln. Sie schob ihren schwarzen Rock hoch und schlug die Beine übereinander. »Wie lange haben wir uns eigentlich nicht mehr gesehen?«
»Seit letzte Woche Mittwoch. Du erinnerst dich, Opa Bernhards Beerdigung.«
»Ich meine doch vorher.« Sie war wieder ruhig und freundlich.
»Keine Ahnung. Du und deine Schwester, ihr habt euch ja bei Opa Bernhard nicht mehr blicken lassen.«
»Das wollte mein Vater so. Wir durften nicht mehr zu ihm, das weißt du doch.« Deborah lupfte ihren Rock noch ein wenig höher.
»Warum bist du auf einmal so schweigsam?«, fragte ich.
»Ich denke nach. An früher.«
»An die Zeit vor deiner Bekehrung?«
»Wieso?«, errötete Deborah.
»Hast du eigentlich inzwischen einen Freund? Du wirst ja auch bald dreißig.« Ich verspürte Lust, sie ein wenig zu quälen.
»Der Herr wird mir schon den Richtigen schicken«, antwortete sie.
Ich stellte mich ans Fenster. Deborah hatte sich einmal in mich verliebt. Es war mindestens zehn, zwölf Jahre her. Wir waren jung und unerfahren. Deborah mochte Opa Bernhard ebenso gern wie ich. Eine Zeit lang trafen wir uns bei ihm, mehr oder weniger heimlich, denn Heilig hatte schon damals die Verbindung zu seinem Vater abgebrochen. Wie es zu diesem Bruch gekommen war, hatte ich nie erfahren. Ich vermutete Heiligs Sektenaktivitäten als Ursache. Opa Bernhard hätte es gerne gesehen, wenn Deborah und ich miteinander gegangen wären, wie man so schön sagt, aber dann hatte sie sich bekehrt und war in die Sekte ihrer Eltern eingetreten. Als wir uns einmal kurz nach ihrer Bekehrung zufällig bei Opa Bernhard begegneten und von Fleischeslüsten überwältigt wurden, bekam sie ein schlechtes Gewissen und tat öffentlich vor ihrer Gemeinde Buße. Dabei hatten wir noch nicht einmal miteinander geschlafen, sondern nur geküsst und ein bisschen gefummelt. Als sie sich nicht mehr mit mir treffen durfte, verloren wir uns aus den Augen. Ich solle um sie kämpfen, riet mir Opa Bernhard, Deborah habe es nicht verdient, in dieser Sekte zu versauern. Aber ich ergab mich dem Schicksal, obwohl ich sie durchaus attraktiv und begehrenswert fand. Später habe ich mich oft über meine Unentschlossenheit geärgert. Deborah sprang aus dem Sessel und nahm meine Hände. Ich versuchte
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