Karlebachs Vermaechtnis
Wir setzten wieder unsere betretene Miene auf. »Den ganzen Morgen klingelt unaufhörlich das Telefon. Die Agenturen, das Fernsehen, die Polizei, Pietsch, Frick… Und wer hat von nichts eine Ahnung? Der Chefredakteur! Wer nimmt mich jetzt noch ernst? Ich weiß nicht mehr, wo mir der Kopf steht.«
»Herr Stumpf…«
»Herr Stumpf, Herr Stumpf … Ich höre immer nur Herr Stumpf! Habt ihr nichts anderes vorzubringen? Denkt doch bitte einmal nach, nur einmal! Wir haben nachrichtenarme Zeit. Da schlägt so eine Geschichte ein wie eine Bombe. Morgen macht jemand einen Anschlag auf die Pressefreiheit daraus, übermorgen ist der Staat in Gefahr und nächste Woche … Ich verlange eine Richtigstellung, in der alles, aber auch alles zurückgenommen wird! Ist das klar?«
Wir nickten schuldbewusst.
»Und jetzt raus!« Stumpf versteckte seinen klugen Kopf hinter einer großen Zeitung. »Chef…«
Stumpf rührte sich nicht.
»Chef, wir wollten noch über die Geschichte vom Judenhaus reden.«
»Wenn ich raus sage, meine ich das auch. Raus!« Geladen wie eine Dampframme verließ ich die Lokalpost. Stumpfs Gebrüll hatte mir den Rest gegeben. Und ausgerechnet jetzt musste ich zur alljährlichen Pflichtaudienz bei Oberkirchenrat Knecht. Jedes Jahr in den Weihnachtsferien lud er die Theologiestudenten aus seinem Kirchenkreis zu einem persönlichen Gespräch ein. Er war Ausbildungsreferent der Landeskirche und ein guter Freund des Bischofs. Gerüchte, die an den Theologischen Fakultäten kursierten, ließen für das Examen nichts Gutes erwarten. Großinquisitor wurde Knecht genannt. Seit die Kirche in arge Finanznöte geraten war, hatte sich seine Macht noch vergrößert. Es galt als offenes Geheimnis, dass er dafür verantwortlich war, wenn wieder jemand trotz guter Vorleistungen durchfiel oder so schlechte Examensnoten bekam, dass seine Chancen auf eine Festanstellung ähnlich aussichtsreich waren wie die baldige Wiederkunft des Herrn. Ich hatte mir bisher keine Sorgen gemacht, denn Knecht und ich wohnten im selben Dorf, ich wies als Mitglied des Posaunenchors die geforderte Teilnahme am kirchlichen Leben nach, besuchte - wenn ich rechtzeitig erfahren hatte, dass Knecht predigte - den Gottesdienst und erwies ihm stets die gebührende Ehre. Was sollte mir schon passieren?
Ich hatte mich mental auf Knechts Moralpredigt vorbereitet, sodass ich mich von seinen Worten nicht aus der Fassung bringen ließ. Als der Gartenzwerg etwa zum dritten Mal wiederholte, wie sehr die Kirche ein kurzes und konzentriertes Studium schätze, dämmerte ich mit schuldbewusstem Gesichtsausdruck langsam weg. Ich beobachtete eine Motte, die Kreise um Knechts Kopf zog, und fragte mich, ob sie nicht Winterschlaf halten müsste, da wurde ich hellhörig.
»Ja, du hast Recht gehört!«, bestätigte Knecht nachdrücklich. Er verscheuchte die Motte von seinem Ohr. »Das heißt, wenn ich mich jetzt nicht zum Examen melde, bin ich zu alt für den Pfarrdienst?« Die bisher unbestätigten Gerüchte stimmten also.
Knecht nickte ernst. Er zählte die Paragraphen eines neuen Kirchengesetzes auf und versuchte die Motte zu fangen. Sie entwischte ihm. »Wegen der dramatisch gesunkenen Kirchensteuereinnahmen können wir nicht mehr jeden einstellen. Wir haben einen neuen Kriterienkatalog verabschiedet. Streng, aber gerecht. Wie in der freien Wirtschaft. Die Kirche ist ein modernes Unternehmen, das sich den Regeln des Marktes nicht mehr verschließen darf. Dazu gehört ein kurzes und konzentriertes Studium. Bummelanten können wir nicht gebrauchen. Je jünger die Leute, desto besser.«
»Das ist Schikane!«, schimpfte ich. »Jesus hat nie von einem kurzen und konzentrierten Studium gesprochen. Und schon gar nicht von: Je jünger die Leute, desto besser!«
»Bitte argumentiere nicht mit Jesus.« Knecht verjagte die Motte.
»Für Jesus ist also in der modernen, wirtschaftlich orientierten Kirche kein Platz mehr. Hätte er noch eine Chance, das Examen zu bestehen?« An Knechts anschwellenden Zornesadern erkannte ich, dass ich zu weit gegangen war. Ich entschuldigte mich für die ungebührliche Bemerkung. »Dir fehlt noch ein Seminarschein. Im Frühjahr kannst du dich zum Examen melden. Du hast nichts zu befürchten.
Es sei denn …« Die Motte setzte sich auf Knechts Handrücken. Er schlug zu und zerkrümelte die Reste des Tieres zwischen seinen Fingern. Dann wischte er sich den Handrücken an einem Taschentuch ab. »Es sei denn …?«
»Es sei denn, du schnüffelst
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