Karlebachs Vermaechtnis
deiner Tour zu tun?«
»Das ist das Problem«, druckste er, »ich soll Fatma in zwei Flüchtlingslager fahren, morgens nach Jericho und mittags nach Nablus. Da dachte ich, es könnte dich interessieren. Aber wenn du gerade versuchst, sie zu vergessen …«
»Kein Problem«, wiegelte ich ab, »ich habe sie schon vergessen.«
Abends besuchte ich Doktor Levy, den ich inzwischen Eli nennen durfte. Er wohnte als Junggeselle in einem teuren Appartement im jüdischen Viertel der Jerusalemer Altstadt und konnte geradewegs auf die Klagemauer blicken. »Ich dachte immer, Wohnungen in der jüdischen Altstadt können sich nur reiche Amerikaner leisten. Oder fromme Thoraschüler.«
»Ich bin Psychiater und Therapeut«, sagte Eli achselzuckend, »ich lebe von dieser Gesellschaft. So lange wir uns im Kriegszustand befinden, werde ich keinen Mangel an Patienten haben. Warum sollte ich mich nicht in der Nähe der Klagemauer niederlassen? Ihr Anblick inspiriert mich.«
»Was sind das für Leute, die Sie aufsuchen?«, wollte ich wissen.
»Alte Menschen, die den Holocaust überlebt haben oder vor den Nazis geflohen sind. Viele leiden noch heute unter den traumatischen Erlebnissen. Junge Soldatinnen und Soldaten, deren Kameraden niedergemetzelt wurden, Einwanderer aus der ganzen Welt, die in Israel niemals heimisch geworden sind, Opfer von Attentaten und Anschlägen, also der ganz normale Durchschnitt der israelischen Gesellschaft. Der Krieg und der Hass und die Angst machen die Menschen krank. In jedem Land der Erde.«
»Können Sie die Leute heilen?«
»Wenn sich an den gesellschaftlichen Verhältnissen nichts verbessert, kann der Mensch sein Herz nicht ändern.« Wir erhoben uns vom Esstisch und setzten uns in gemütliche Korbsessel. Eli mixte zwei Cocktails und auf meinen ausdrücklichen Wunsch überreichte er mir einen alkoholfreien Drink.
»Sie möchten Schlomo Karlebach sprechen?«, fragte er, nachdem ich seinen Früchtemix gebührend gewürdigt hatte. Ich war verblüfft und suchte nach Worten, um meiner Überraschung Ausdruck zu verleihen. »Karlebach hat mir erzählt, dass ihn schon seit einigen Wochen ein junger Mann aus Deutschland anzusprechen versucht. Und seine Beschreibung könnte auf Sie zutreffen.«
Es dauerte eine Weile, bis ich meine Sprache wieder gefunden hatte. »Ist er, bitte verzeihen Sie, ist er ein Patient von Ihnen?«
»Nein«, lachte Eli, »er ist mein Nachbar. Er lebt sehr zurückgezogen, aber hin und wieder treffen wir uns oder essen gemeinsam zu Abend. Er wohnt allein und meine Freundin lebt in Tel Aviv, da leisten wir uns gegenseitig etwas Gesellschaft.«
»Ja«, sagte ich dann, »ich möchte unbedingt mit ihm reden, aber ich weiß nicht, wie ich an ihn herankommen soll. Er ist sehr abweisend zu mir.«
»Was möchten Sie denn von ihm?«
Ich erzählte ihm die Geschichte vom Judenhaus. Eli hörte aufmerksam zu und unterbrach mich einige Male, um noch mehr Einzelheiten zu erfahren. Als ich geendet hatte, erhob er sich schweigend und schaute auf die Klagemauer hinab. »Es gebührt mir nicht, Ihnen Ratschläge oder Vorschriften zu erteilen«, sagte er ernst, noch immer auf die Klagemauer blickend, »aber…« Er drehte sich zu mir. »Weshalb wollen Sie wirklich mit Karlebach reden? Wollen Sie diesen Pietsch zu Fall bringen und sich damit ein Denkmal setzen? Wollen Sie sich und anderen beweisen, dass Sie ein toller Journalist sind? Wollen Sie Ihren persönlichen Ehrgeiz befriedigen? Oder wollen Sie etwa der Gerechtigkeit auf die Sprünge helfen?«
Eli setzte sich wieder in seinen Sessel und schaute mich unverwandt an. Ich fühlte mich plötzlich unbehaglich und hätte mich am liebsten verabschiedet. Aber irgendwas hielt mich in meinem Sessel fest. Ich knackte mit den Fingern und biss mir auf die Lippen. »Wann ist Ihr Vater geboren?«, fragte Eli. »1943, nein 1941«, antwortete ich mechanisch. »Und wo?«
»In Lublin, im besetzten Polen.« Eli nickte ein paar Mal.
»Aber dort ist er nicht aufgewachsen«, sagte ich rasch. Eli nickte noch immer und schaute an die Decke. »Ja, ich weiß … Was ist mit Ihren Großvätern?«
»Die sind beide im Krieg gefallen, der Vater meiner Mutter im Kessel von Stalingrad, der Vater meines Vaters in … Ich weiß es nicht. Ich habe beide nicht gekannt.«
»Was hat Ihnen Ihr Vater von seinem Vater erzählt?«
»Nichts«, sagte ich, »er hat ihn ja selber kaum gesehen. Und beim letzten Mal war er noch keine vier Jahre alt. Wenig später ist auch seine Mutter
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